Wie man in guten Zeiten zusammenhält, so auch, wenn das Leben herausfordert
Ortstermin im Hubertusstift. Das Alten- und Pflegeheim mitten im Stadtteil steht für einen zugewandten Umgang mit Menschen, die mit Einschränkungen durch Alter und Krankheit leben. Wie in der Gesellschaft insgesamt wächst der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz. Das Hubertusstift hat sich in den vergangenen Jahren systematisch darauf eingestellt.
Dreh- und Angelpunkt: die Methode "Marte Meo" der Niederländerin Maria Aarts. Sie fördert einen wertschätzenden Umgang mit Personen, auch bei herausfordernden Situationen. Dabei leitet ein Fokus auf die Fähigkeiten des Gegenübers. Der Mensch, um den es geht, behält die Hoheit über das, was mit ihm geschieht, fühlt sich verstanden und gestaltet mit.
Drei Motoren für das Netzwerk „Demenzfreundliches Schiefbahn mit Marte Meo“: Einrichtungsleiter Christoph Venedey (l.), Stephanie Becker-Vieten (beide Hubertusstift) und Manfred Hendricks, Mitglied des Seniorenbeirats der Stadt Willich.Thomas Hohenschue
Dass ein solches achtsames Vorgehen gut geht, dass es sogar Zeit und Nerven spart, ist ein Lernprozess, der manche Gewohnheiten und Bedenken überwinden muss. Das war und ist kein Spaziergang, berichten Einrichtungsleiter Christoph Venedey und Stephanie Becker-Vieten, Leiterin des Sozialen Dienstes. Wer mitgeht, empfindet Marte Meo als hilfreich und bereichernd.
Ein Thema, das alle Familien und Vereine betrifft
Aus Überzeugung haben die beiden noch eine kräftige Schippe draufgelegt. Warum soll nur das Hubertusstift ein besseres Verständnis vom richtigen Umgang mit Menschen mit Demenz haben? Wäre es nicht gut, wenn der ganze Stadtteil sensibilisiert wird und so die Angehörigen und die betroffenen Menschen aus Isolation und Überforderung herausgeholt werden?
Gedacht, getan. Die beiden starteten das Projekt "Demenzfreundliches Schiefbahn mit Marte Meo", gefördert durch das Bundesfamilienministerium. Dafür benötigten sie Netzwerkpartner. Da kam Manfred Hendricks ins Spiel. Er ist Mitglied im Seniorenbeirat der Stadt Willich, bestens vernetzt in Schiefbahn, steht als langjähriges, früher leitendes Mitglied der St.-Sebastianus-Bruderschaft 1449 Schiefbahn mitten im aktiven Vereinsleben.
Es geht hier um Menschen, die Jahrzehnte lang das Leben im Stadtteil mitgestaltet haben, sagt er. So wie die Bürgerschaft in guten Zeiten zusammenhält, so soll es auch sein, wenn das Leben herausfordert. Gute Beziehungen zum Hubertusstift unterhalten alle Einrichtungen und Vereine. Mit Marte Meo kam aber noch einmal ein neuer Schwung mit Blick auf Leben mit Demenz hinein.
Ein Anliegen, das viele offene Türen einrennt
Vom Fördergeber gefordert waren fünf Netzwerkpartner. Auf Anhieb wurde es zehn, erzählen die drei. Ausdruck des zupackenden Gemeinsinns, der Schiefbahn auszeichnet. Es sind so verschiedene Partner dabei wie stellvertretend für heute 17 Partner die Bibliothek im Brauhaus, die Apotheke von Michael Lüdtke und die Tanzschule von Tommy Schlagenauf.
Sie alle bringen ihre Ressourcen ins Netzwerk ein, in diesem Fall ein Medienregal für Angehörige zum Thema Umgang mit Demenz, Ruhepol und Hitzeschutz im klimatisierten Raum oder Tanzangebote, die das Herz aufgehen lassen. Letztere werden über eine stattliche Spende finanziert, welche das Stadtteilfest "Mein Fest" des Netzwerkspartners der Schiefbahner Werbegemeinschaft erzielte.
Im Rahmen des "Netzwerkes Demenzfreundliches Schiefbahn" gibt es vier Punkte, an die interessierte Institutionen, Organisationen, Vereine, Familien und Einzelpersonen andocken können. Neben den von Bürgermeister Christian Pakusch unterstützten und Maria Aarts fachlich begleiteten Fachtagungen sind es niedrigschwellige Aktionen der Netzwerkpartner, der offene Austausch in den "Schiefbahner Gesprächen" und Schulungen.
Ein Netzwerk, das viele Angebote ermöglicht
Einige Kooperationspartner steuern regelmäßig Aktionen bei. Die Feuerwehr lädt zum Martinsessen ein und die St. Sebastianus-Schützen zum Oktoberfest. Der Heimatverein lässt bei Erzählabenden im Kamps Pitter alte Erinnerungen aufleben. Mit dem Bürgerbus geht es auf Lichterfahrten durch das vorweihnachtliche Schiefbahn. Alle steuern so ihren Beitrag, die soziale Teilhabe von Alten, Kranken und Menschen mit Demenz zu fördern.
Bei den Schiefbahner Gesprächen engagieren sich verschiedenste Leute. So brachte sich zum Beispiel Kurt Schumacher ein. Mit den Willicher Maltesern und ihrem früheren Leiter verbindet Christoph Venedey eine enge Kooperation. Ehrenamtliche und weitere Interessierte genießen dadurch fundierte Fortbildungen. Kurt Schumacher referierte sein Wissen über das gute Ausgestalten eines Lebens mit Demenz.
Die videounterstützten Schulungen durch die Marte Meo-Supervisorin Kerstin Schnapp-Benend wiederum begeistern die Teilnehmenden. Davon berichtet stellvertretend Gaby Kirchkamp, Ehrenamtliche des Hubertusstifts. Sie kann nun sehr viel verständnisvoller und geduldiger mit ihrer Freundin umgehen, die mit Demenz lebt. "Ich sehe sie jetzt nicht mehr als Kranke, sondern als Mensch mit einem eigenen Leben."
Mitten im Netzwerk agieren Akteure, die selbst Netzwerke sind und so dem Anliegen noch mehr Breite und Tiefe verleihen. Dazu zählen das Freiwilligenzentrum der Caritas, das Ehrenamtliche im Stadtteil vermittelt, und die Stadtteilkonferenz. Diese ist der strukturelle Spiegel des Gemeinsinns, der Schiefbahn auszeichnet. Wie man am Einsatz des Stadtteils für Menschen mit Demenz sieht.
"Demenzfreundliches Willich" - erzählt in vier Bildern
Die Bibliothek im Brauhaus, kurz BiB, zählt zu den Netzwerkpartnern im Projekt. Sie hat für Angehörige von Menschen mit Demenz Medien und Materialien angeschafft. Auch bringt sie sich als Ort für die Schiefbahner Gespräche ein, in der sich Bürgerinnen und Bürger über die demenzfreundliche Entwicklung ihres Stadtteils unterhalten. Passend dazu ist sie Gastgeberin einer Lesung zum Thema. Auch Büchertische zu Fachtagungen hat sie beigesteuert. Andrea Krause ist Mitarbeiterin der Bibliothek. Hier zeigt sie ein Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel, das auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten sehgeschädigter Menschen angepasst ist.
Zu den Menschen, die das Anliegen des Projektes "Demenzfreundliches Schiefbahn mit Marte Meo" vorantreiben, zählt auch Melina Friedrich vom Freiwilligenzentrum der Caritas. Sie bringt passgenau Ehrenamtliche mit Einsatzstellen zusammen. Beim Hubertusstift stimmt die Qualität der Begleitung, sagt sie. Das hört Einrichtungsleiter Christoph Venedey natürlich gerne. In der Begegnungsstätte der Caritas leben immer mehr Besucherinnen und Besucher mit Demenz oder haben Betroffene in ihrem Umfeld. Von daher begrüßt Melina Friedrich, dass Sensibilität, Wissen und Einfühlung für den Umgang durch Fachtagungen und Schulungen wachsen.
Mit den eigenen Möglichkeiten an einem demenzfreundlichen Stadtteil mitwirken: Das ist die Einladung, die das Netzwerk ausspricht. Auch Apotheker Michael Lüdtke macht mit. Durch seine Arbeit hat er sehr viel mit älteren, kranken und auch von Demenz betroffenen Mitmenschen zu tun. Er bietet seine gut klimatisierte Apotheke als Ort an, um sich von Hitze zu erholen. Auch zu anderen Jahreszeiten dürfen sich Menschen bei ihm ausruhen. Michael Lüdtke bringt sich auch mit einer persönlichen Leidenschaft ein: seiner Liebe zur Musik. Mit den wohltuenden Schwingungen seiner Handpan kommen Zuhörende ganz schnell zur Ruhe.
Musik spielt im Leben der meisten Menschen eine wichtige Rolle. Das weiß Tommy Schlagenhauf nur zu gut - er hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Zum Thema Demenz hat der Tanzlehrer eine persönliche Beziehung, sein enges familiäres Umfeld ist betroffen. Umso motivierter möchte er seinen Beitrag leisten, Menschen mit Demenz gute und schöne Momente zu bereiten, von denen sie als Kraftquelle im Alltag zehren. Die gelungene Premiere eines Tanzangebots bewegt Tommy Schlagenhauf bis heute. Es war toll zu sehen, wie zunächst apathisch und kraftlos wirkende Menschen bei der Musik aufblühten, sich bewegten, lächelten. Ganz so, wie ein wichtiger Merksatz von Marte Meo lautet: Das Herz wird nicht dement.
Text und Fotos: Thomas Hohenschue