Für die Demokratie: Diskursräume mutig öffnen, statt sie weiter zu verengen
Jürgen Wiebicke wirbt bei einem Fachtag von Bistum und Caritas für einen selbstbewussten Umgang und Austausch mit Andersdenkenden.Thomas Hohenschue
Jürgen Wiebicke ist ein Mensch, der gerne beobachtet, zuhört und diskutiert, weil er daraus lernt und Inspiration schöpft. Insofern bedauert er es sehr und sieht darin erhebliche Nachteile, dass die Diskursräume in unserer Gesellschaft immer enger werden. Seine Diagnose: Wir haben verlernt, mit Verschiedenheit umzugehen und uns auszuhalten, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Dadurch sind die meisten Menschen nur noch in ihren Blasen unterwegs, erfahren wenig Neues, verlieren Diskursfähigkeit, die doch so wichtig ist in unserer Demokratie.
Fachtag von Bistum und Caritas
"Wir haben die halbe Strecke zur Abschaffung von Demokratie selbst geschafft, wenn wir öffentlichen Streit ausblenden und Veranstaltungen mit Regeln und Polizei schützen", sagt der Journalist und Schriftsteller. Er war der Gast eines Fachtags, den Bistum Aachen und Diözesancaritasverband nach den Kommunalwahlen ausrichteten. Die Veranstaltung in Aachen vernetzte verschiedene kirchliche Aktive und Akteure, die Gesellschaft mitgestalten. Ziel war eine Inspiration, wie es nach den Wahlen weitergehen kann, gerade mit dem bürgerschaftlichen Engagement.
Die eigene Komfortzone verlassen
Der Gast aus Köln bot eine solche Inspiration an. Jürgen Wiebicke ermutigte dazu, die eigene Komfortzone zu verlassen, sich selbst zu hinterfragen, das, was falsch läuft, zu reflektieren und sich dem Streit darüber zu stellen. Denn über die Gefühle, die AfD-Wähler bewegen, nicht zu reden, sie als rechts zu diffamieren, verstärke deren Selbstwahrnehmung, nicht gehört zu werden, und verstärke so den Rechtsruck. Gefühle könne man nicht kritisieren. Zu bekämpfen seien die falschen Antworten, die auf gefühlte und tatsächliche Wahrheiten und Wahrnehmungen gegeben werden.
Es geht auch um die eigenen Gefühle, Trigger, Holzwege als Mensch, der gesellschaftlichen Fortschritt mitgestalten möchte. Angst dürfe nicht der Kompass sein für politisches Handeln, betonte Jürgen Wiebicke. Das fange bei der Gestaltung einer öffentlichen Veranstaltung an, sagte er. Man solle es lassen, Themen und Teilnehmende auszugrenzen. Genau betrachtet werde mit einer solchen Vermeidung von Streit der Mündigkeit und Urteilsfähigkeit des Publikums misstraut. Aber: Was bringt ein Austausch, wenn er nur unter Gleichgesinnten stattfindet?
Sicherlich gebe es Grenzen bei dem, worüber gestritten werden kann, doch sollten sie deutlich weiter sein, um dem nötigen Diskurs Raum zu geben, statt Gespräche abzubrechen oder zu verweigern. Jürgen Wiebicke ermutigte, auf die eigene Kraft zu vertrauen. Geschichte wiederhole sich nicht, sondern es liege in unserer Hand, was geschieht. Wir können rechten Erzählungen und Konzepten etwas entgegensetzen, und wir können die Strapazen bestehen, die es bedeutet, mit Menschen umzugehen, die anders denken und fühlen als man selbst.
Demokratie vor Ort erlebbar machen
Einen Kontrapunkt setzen auch bürgerschaftliche Initiativen, die Verhältnisse vor Ort mitgestalten. Kirche und Caritas betätigen sich hier oft als Moderatorinnen und Koordinatorinnen. Die Inspiration kommt meist von Einzelnen, berichtete Jürgen Wiebicke. Er fragt immer, wie es angefangen hat, und häufig sind es spontane Ideen gewesen, die beim geselligen Zusammensein entstanden. Schritt für Schritt entstehen dann Angebote, die weitere Menschen einladen, sich selbst zu ermächtigen. Das gilt auch für wirtschaftlich und sozial benachteiligte und belastete Personen.
Auch hier könnte manche Schwelle niedriger sein, merkte der Gast an und hatte dabei auch die Regeln, Vorschriften und Voraussetzungen im Blick, die den Rahmen für freiwilliges Engagement im Raum von Kirche und Caritas setzen. Dafür handelte sich Jürgen Wiebicke den einzigen Zwischenruf bei seinem Vortrag ein, der darauf abhob, dass es ja gute Gründe für diesen Rahmen gebe, gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Dem Impulsgeber wiederum ging es sicher vorrangig um den Gedanken, die Gründungsphase von Initiativen und Projekten nicht zu formal zu gestalten.
Überhaupt sieht der Journalist und Schriftsteller hier wie beim politischen Streit Schwierigkeiten, die auf der Seite der Wohlmeinenden selbst liegen. Wie reden wir eigentlich über bürgerschaftliches Engagement, fragte er. Weder sei es eine Last noch eine Pflicht, sondern vielmehr eröffnen sich Menschen Spielräume zur Gestaltung ihres Lebens und Zusammenlebens, nähmen ihre Freiheiten wahr und weiten sie, stärken sich selbst und andere, knüpfen bereichernde Beziehungsgeflechte. Das ist erlebte Demokratie und das macht Demokratie stark. Davon braucht es mehr.
Autor: Thomas Hohenschue