Einen Todeswunsch zu äußern, heißt nicht immer, dass man wirklich tot sein will
Mareike HümmerichThomas Hohenschue
Mareike Hümmerich kennt sich mit den Klippen und Untiefen der ethischen Dilemmata aus, die sich im Alltag der ambulanten und stationären Pflege auftun. Als ausgebildete mobile Ethikberaterin rückt sie immer wieder mit Kolleginnen und Kollegen aus, wenn Angehörige oder Mitarbeitende von Diensten und Einrichtungen nicht mehr weiterwissen. Darüber berichtet die Mitarbeiterin des Palliativen Netzwerks für die Region Aachen e.V. in Kürze bei einem Fachtag im Haus der Caritas in Aachen.
Vor Ort heißt es: Wie soll es ethisch vertretbar weitergehen, wenn ein scheinbar unlösbarer Konflikt die Kräfte bindet? Meist geht es um medizin-ethische Fragen. Ab welchem Punkt ist ein kranker Mensch austherapiert, sprich, wann ist der Kipppunkt erreicht, ab dem medizinische Maßnahmen eher das Leiden als das Leben verlängern? Für viele Beteiligte tritt dieser Fall zum Beispiel auf, wenn es zur künstlichen Ernährung über eine Magensonde kommt. Wie sinnvoll ist diese, wenn der Sterbeprozess absehbar einsetzt? Und andersherum: Gebietet es der eigene Auftrag, die Sonde zu nutzen? Vor allem aber: Was möchte die Person?
Mareike Hümmerich und andere qualifizierte Ethikberaterinnen und -berater führen die nötigen Gespräche mit den Beteiligten. Immer ist das Team interdisziplinär aufgestellt, medizinische, pflegerische und psychosoziale Kompetenz sind immer dabei. Die wichtigsten Auskunftsgebenden sind die Person selbst und ihre Angehörigen. Diese werden ebenfalls zu dem ethischen Fallgespräch eingeladen. Es kommt ganz auf die Situation an. Und das ist auch schon die Antwort auf die Frage: Was tun? Es kommt sehr auf die beteiligten Personen und insbesondere auf den kranken Menschen selbst und seinen Willen an. Im besten Fall hat er ihn schon vor Monaten und Jahren schriftlich festgehalten, per Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Notfallplan.
Aber selbst die beste Vorbereitung kann ethische Dilemmata nicht ganz verhindern. Und so sitzt man zusammen, hört alle an, wägt Perspektiven und Interessen ab. Leitend ist die Vorstellung eines guten Lebens für alle. Das stößt je nach Problemlage an Grenzen. Dann gilt es verschiedene Perspektiven und manchmal auch Werte abzuwägen und möglichst einen Konsens im Sinne des Patienten zu erreichen. "Aber die offene Aussprache hilft in jedem Fall, den Beteiligten bei der Lösungssuche bestmöglich gerecht zu werden."
Der kranke Mensch sitzt im Zweifel zwischen allen Stühlen. Zwar steht seine Lebensqualität im Vordergrund. Aber wenn die Schmerzen unerträglich sind, man einsam ist, das eigene soziale Netz nicht trägt, dann ist das Leben beeinträchtigt. Solche Hintergründe stecken häufig hinter der Äußerung, dass man nicht mehr leben wolle, sagt Mareike Hümmerich. Sie sagt klipp und klar: "Einen Todeswunsch zu äußern, heißt nicht immer, dass man wirklich tot sein will." Bei der Äußerung "Ich möchteso nicht mehr leben" stellt sich häufig die Frage: Was bedeutet so?
Der einzige Weg, das herauszufinden, ist ein sehr persönliches Gespräch über die Vorstellungen, Wünsche und Träume, die den kranken Menschen prägen. Was ist ihm wichtig, was macht das Leben für ihn lebenswert? Vielleicht gelingt ein Perspektivwechsel, der den Weg zu guten Lösungen ebnet. Falls sich die Person nicht selbst äußern kann, wird die Bezugspflegekraft nach ihren Einschätzungen gefragt: Was bereitet dem Menschen Freude, gibt ihm Ruhe, Zufriedenheit, lässt ihn Wohlbefinden, Glücklichkeit und Dankbarkeit ausstrahlen?
Das ist häufig ein sehr emotionaler Moment und Prozess. Und die Gefühle von Wut, Angst, Trauer, welche an die Oberfläche drängen, sind gut und wichtig, weil sie helfen, die Krise zu bewältigen, betont Mareike Hümmerich. Ihr Übriges tut Information über die stetig besser werdenden Möglichkeiten der Palliativmedizin und Palliativpflege. So kann es gelingen, die Diskussion zu versachlichen und in ein konstruktives Fahrwasser zu bringen.
Die Problemlagen sind immer individuell. Davon macht sich Mareike Hümmerich im Vorfeld bei einem Clearinggespräch ein erstes Bild. Wer zum Beispiel bislang aktiv lebte, kommt vielleicht mit den Mobilitätseinschränkungen nicht zurecht. Ein geselliger Mensch vermisst seine verstorbenen Freunde. Ein junger krebskranker Mensch möchte seine Schmerzen mit einer Überdosis Betäubungsmittel beenden. Eine junge Frau kommt nach einer Coviderkrankung nicht mehr auf die Beine. Eine Person hält die leidvolle Demenz ihrer Mutter nicht mehr aus.
Im interdisziplinären Austausch finden sich fast immer Wege, die auf eine Verbesserung der Lage hinauslaufen. Eventuelle Maßnahmen werden natürlich nur nach Zustimmung des kranken Menschen ergriffen. Häufig helfen schon das offene Gespräch und das Aufzeigen von Chancen. Die starken Überforderungsgefühle weichen, die Personen gewinnen das Heft des Handelns zurück. Obschon die Situation oft schwierig bleibt, sind Erleichterung und Entlastung riesig.
Abschließende Info
Das Gespräch mit Mareike Hümmerich fand im Umfeld des Fachtags ""Gemeinsam mit Würde begleiten - Herausforderungen der ambulanten und stationären Pflege bei der palliativen Versorgung und hospizlichen Begleitung" am 25. März 2025 in Aachen statt. Dort kooperieren der Diözesancaritasverband Aachen, das Bildungswerk Aachen, das Palliative Netzwerk für die Region Aachen und das Hospiz Haus Hörn.
Autor: Thomas Hohenschue