Distanz und Hilfe in Zeiten von Corona: „Erwäge die aktuelle Situation und finde eine Lösung der goldenen Mitte.“
Frau Kohlwey, Menschen erleben in diesen Tagen wegen der Corona-Pandemie Einschränkungen der Behörden, die sie als Einschränkung ihrer Freiheit wahrnehmen. Wie ist das aus theologischer und ethischer Perspektive zu bewerten?
Anna Kohlwey, Fachreferentin für theologische Grundsatzfragen in der Geschäftsstelle des Caritasverbandes für das Bistum AachenDiCV Aachen
Anna Kohlwey Aus christlicher Perspektive ist der Mensch nach Gottes Bild geschaffen. Daher sind Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen hohe Güter, die stets verteidigt werden müssen. Nun sind diese Zeiten durchaus verquer. In dieser für uns neuen bis irrealen Situation ist es notwendig, Freiheit und Selbstbestimmung nicht als alleingültig dastehen zu lassen. Als Sozialwesen sind wir Menschen immer auch verletzlich und abhängig von anderen Menschen und anderen Faktoren wie Umwelt, Alter, Gesundheit. In dieser Corona-Zeit muss man sich besonders verletzlichen Personen und Personengruppen gegenüber nun solidarischer denn je zeigen und seine Fürsorgepflicht wahrnehmen. Und das bedeutet primär: zuhause bleiben bzw. enge Kontakte meiden.
In Zeiten sozialer Distanzierung aufgrund einer bisher unbekannten Viruspandemie ist das besonders herausfordernd. Was heißt das nun für den Einzelnen? Welchen Anspruch sollte ein Christ nun an den Tag legen?
Kohlwey Grundsätzlich gilt: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Daraus ergibt sich, dass Selbstschutz unabdingbar ist. Das bedeutet: Wenn ich zur Risikogruppe gehöre, wenn ich Vorerkrankungen habe oder gesundheitlich insgesamt angeschlagen bin, trage ich vor allem eine Fürsorge für mich. In diesem Fall bedeutet Selbstschutz aber zugleich auch Schutz für den Nächsten. Jeder Nicht-Kontakt hilft dabei, die Pandemie einzudämmen.
Nun sagen Experten aber auch, dass es eine Gruppe gibt, die der Wahrscheinlichkeit nach das Virus gut verpacken würden. Wie ist es mit dieser Personengruppe und der sozialen Distanzierung?
Kohlwey Die soziale Distanzierung ist hauptsächlich ein Akt der Solidarität. Das heißt: Ich bleibe Zuhause, um den Anderen zu schützen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Ist das nicht ein wenig paradox? Soziale Distanzierung trifft auch diejenigen, die aus Solidarität und völlig verständlich geschützt werden wollen und sollen. Ich denke einmal an alte und vorerkrankte Menschen. Denn so droht vielfach auch die Hilfe für diese Personen im Alltag wegzufallen, sei es beim Einkaufen oder beim Gang zum Arzt. Was ist zu tun?
Kohlwey Eine pauschale Antwort hilft nicht weiter, auch keine politische Anordnung. Die Situation, die Corona mit sich bringt, fordert uns als moralische Wesen im Einzelnen heraus. Sie traut uns aber auch zu, Entscheidungen selbst zu treffen. Dieser Entscheidung muss aber vorausgehen, dass ich mich mit den Risiken und der aktuellen Lage auseinandergesetzt habe, dass ich mich aus guten, erwägten Gründen aus der sicheren Zone hinausbegebe. Gleichzeitig braucht es dafür auch Kenntnisse, wie ich mich zu verhalten habe: Trotz allem gilt es, den Kontakt so distanziert und kurz wie möglich zu halten. Gegebenenfalls kann ich Handschuhe tragen, mit denen ich die Einkäufe vor die Tür stelle. Beim Fahrtendienst kann die mitzunehmende Person hinten sitzen. Aber die eigene christliche Überzeugung erfordert von uns, sich die Frage ‚Wem kannst Du heute der Nächste sein?‘ auch aktiv zu stellen, nach Möglichkeiten der Hilfe zu suchen und sich nicht wegzuducken.
Trotzdem bleibt ein Restrisiko.
Kohlwey Ein Restrisiko bleibt immer. Auch unabhängig von einer solchen Krise gibt es Restrisiken, die einzugehen sind. Dieses Restrisiko muss mit den betroffenen Personen besprochen und so weit es geht reduziert werden. Die Unterstützung anderer darf das Gemeinwohl nicht gefährden. Daher ist immer zu fragen: Was ist nun wirklich dringend und notwendig? Welche Hilfsangebote können besser warten?
Könnte in diesen Zeiten nicht der Claim der Caritas-Jahreskampagne "Sei gut, Mensch!" eine Richtschnur sein?
Kohlwey Obwohl die Macher dieser Kampagne sicher nicht an eine solche Situation, wie diese, gedacht haben, könnte sie meiner Meinung nach nicht besser passen. "Sei gut, Mensch!" bedeutet im Sinne der Tugendethik, um die es letztlich bei dieser Kampagne geht, für jeden: Erwäge die aktuelle Situation und finde eine Lösung der goldenen Mitte. Wichtig ist es, nicht in Extreme zu verfallen: Weder völlige Isolation noch Ignoranz helfen weiter, sondern besonnenes und abwägendes Verhalten. Insgesamt darf soziale Distanzierung nicht soziale Isolation meinen. Glücklicherweise gibt es aber Mittel und Wege, miteinander ins Gespräch zu kommen, zu spielen, Zeit zu verbringen, ohne im selben Raum sein zu müssen. Hilfsangebote und -gesuche im Internet ermöglichen Absprachen, Abwägungen und Planungen in sicherer Entfernung.
Nach Möglichkeiten der Hilfe suchen und sich nicht wegducken, das versuchen viele Menschen in diesen Tagen, auch die verbandliche Caritas im Bistum Aachen. Der Regionale Caritasverband in Düren organisiert zum Beispiel eine Nachbarschaftshilfe für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind.
Die Caritas im Kreis Viersen bietet telefonische Beratung für Trauernde an, weil in Zeiten von Corona derzeit das Trauercafé nicht stattfinden kann.
Das Bethanien Kinderdorf in Schwalmtal hat die #CoronaSmileChallenge gestartet.
Als Teil der Freien Wohlfahrtspflege in Stadt und Srädteregion Aachenorganisiert der regionale Caritasverband in Aachen die Corona-Nachbarschaftshilfe.