„Der Sozialstaatsgrundsatz ist wehrhaft und ewig im Grundgesetz verankert“
Frau Weisel, 1960 war das Grundgesetz gerade einmal elf Jahre alt. Da hat ihr Vater über den in unserer Verfassung hinterlegten Sozialstaatsgrundsatz promoviert. Ein Grundsatz, der ja durchaus etwas auch mit der Arbeit der Caritas zu tun hat. Was ist ihr erster Gedanke, wenn Sie 64 Jahre, nachdem ihr Vater promoviert hat, seine Arbeit zur Hand nehmen?
Britta Weisel Zum Sozialstaatsgrundsatz gibt es heute 13 dicke Gesetzesbücher, zusätzliche Einzelgesetze und hunderttausende juristischen Schriften und Entscheidungen der Rechtsprechung. Für mich ist es faszinierend zu sehen, mit welch einem schmalen Bändchen mein Vater damals auskam. Seine Promotion umfasst 130 DINA-5-Seiten.
Mit was befasste sich Ihr Vater in seiner Arbeit genau?
Britta Weisel Er beschäftigte sich allein mit dem Kerngehalt dieses Sozialstaatsgrundsatzes, nämlich seiner Substanz-, Funktions-und Strukturproblematik, die damals sehr umstritten war. Dabei war er offenbar im Gespräch mit den "Machern" des Grundgesetzes. So erwähnt er in einer Fußnote, dass ihm der SPD-Politiker Carlo Schmid selbst berichtet habe, er sei es gewesen, der den Antrag gestellt habe, das Wort "sozial" in das Grundgesetz aufzunehmen.
Wo finden wir den Sozialstaatsgrundsatz in unserer Verfassung?
Britta Weisel Der Sozialstaatsgrundsatz ist im Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 niedergelegt. Darin heißt es: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." In Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG wird diese Ordnung entsprechend auch für die Bundesländer angeordnet: "Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen".
Dieses kleine Adjektiv sozial ist also die Grundlage für eine fundamentale Bestimmung, die auf die Lebenswelt von Millionen Menschen durchgreift?
Britta Weisel Das ist überraschend, ja. Durch seine Platzierung in Art. 20 GG erhält dieses kleine Wort sozial allerdings seine Wucht. Denn die in Art. 20 niedergelegten Grundsätze werden vom Grundgesetz doppelt stark geschützt: zum einen durch Art. 79 Abs. 3 GG mit seiner sogenannten "Ewigkeitsgarantie".
Was bedeutet das?
Britta Weisel Sie besagt, dass die in Artikel 20 niedergelegten Grundsätze jeglicher Verfassungsänderung entzogen, also in ihrem Wesenskern unantastbar sind. In Art. 20 Abs. 4 GG, steht dann auch noch, dass alle Deutschen gegen jeden, der es unternimmt, die in Art. 20 GG niedergelegte Ordnung zu beseitigen, das Recht zum Widerstand haben, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Der Sozialstaatsgrundsatz ist also wehrhaft und ewig im Grundgesetz verankert.
Britta Weisel, Juristin in der Geschäftsführung der Geschäftsstelle des Caritasverbandes für das Bistum Aachen, mit der Promotion ihres Vaters über den Sozialstaatsgrundsatz des Grundgesetzes.DiCV Aachen
Was besagt dieser Sozialstaatsgrundsatz überhaupt?
Britta Weisel Angesichts des lapidaren Adjektivs "sozial" ist das höchst auslegungsbedürftig und eröffnet das Spielfeld für die unterschiedlichsten Interpretationen. Mein Vater hat den rechtlichen, soziologischen, politischen und philosophischen Diskurs hierüber von damals ausgebreitet. Einige wenige Dinge davon will ich hier nennen: Weitgehend konsensfähig scheint zu sein, dass das Sozialstaatsprinzip dem Zweck der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs, der Daseinsvorsorge und der "Inschutznahme der Schwachen" dient. Zu den "Schwachen" werden damals auch die Arbeitnehmer und in Teilaspekten die Frauen gezählt, wenn es um Fragen wie Mutterschutz oder Haushaltstage geht, und natürlich die Kinder und die "Armen". Das Sozialstaatsprinzip steht aber im Grundgesetz nicht allein, sondern wird verortet im Spannungsfeld zu anderen, im Grundgesetz niedergelegten Prinzipien und namentlich als im Konflikt stehend zum republikanischen, bundesstaatlichen, demokratischen, aber ganz besonders zum rechtsstaatlichen Prinzip gekennzeichnet.
Aber stehen die Prinzipien im Grundgesetz nicht einträchtig nebeneinander, wenn in Art. 28 GG vom "sozialen Rechtsstaat" die Rede ist?
Britta Weisel Das Spannungsverhältnis wird darin gesehen, dass die Intention des Rechtsstaatprinzips grundsätzlich die Wahrung des status quo sei. Dies ergebe sich schon aus der Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe. Demgegenüber setze das Sozialstaatsprinzip eine sozialordnende Gestaltungstätigkeit des Staates voraus. Diese ziele auf Veränderungen des status quo. Hierbei richten sich die Grundrechte des einzelnen nicht abwehrend, sondern fordernd an den Staat.
Und welche Lösungsmöglichkeit hat ihr Vater für dieses Spannungsverhältnis gesehen?
Britta Weisel Mein Vater meint, die Lösung dieser widerstreitenden, im Grundgesetz angelegten Prinzipien könne nicht abstrakt und grundsätzlich erfolgen, da sie gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Vielmehr sei die Lösung darin zu sehen, dass ermittelt wird, welches Prinzip bei der Entscheidung einer Frage jeweils das höhere Gewicht hat. Hier, und allein hier in der praktischen Anwendung im konkreten Fall seien die Spannungen zwischen den Grundrechtsprinzipien sachgerecht zu lösen. Und damit tritt eine für mich interessante Wendung auf: Mein Vater stellt fest, dass sich die Gleichung Rechtsstaat = Gesetzesstaat überlebt habe und das Grundgesetz mit dieser Tradition breche. Im Grundgesetz sei vielmehr der "Rechtssprechungsstaat" angelegt, denn Gesetze enthielten weitgehend unbestimmte Rechtsbegriffe, die durch die Verwaltung zu konkretisieren seien. Aufgrund des individuellen Rechtes des Bürgers, dagegen Gerichte anzurufen (Art. 19 Abs. 4 GG), ergibt sich die Möglichkeit, die Verwaltungsentscheidungen überprüfen zu lassen. Dadurch ergebe sich in Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip eine Strukturverlagerung von der Legislative hin zur Judikative. Grundsätzlich seien zwar nur die parlamentarischen Organe zur Herbeiführung des sozialen Ausgleiches und zur Durchführung der Daseinsvorsorge befugt. Es könne aber gar nicht anders sein, als dass der Sozialstaatsgrundsatz bei den Gerichten als Auslegungsgrundsatz in der Argumentation herangezogen werden würde und dadurch gegebenenfalls neue Figuren nicht-legislatorischer Rechtsfortbildung einströmten.
Sehe ich es richtig: Ihr Vater vertritt die Auffassung, mit dem Grundgesetz bewegen wir uns - auch in Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip - auf Kosten des "Gesetzesstaates" in einen "Rechtssprechungsstaat" hinein?
Britta Weisel Ja, und ich finde das heute bestätigt, wenn ich als Juristin bei der Caritas auf manche jüngste Gesetzgebung schaue. Der Sozialstaat verzichtet heute häufig darauf, im sozialen Bereich präzise gesetzliche Regelungen zu treffen und zieht allenfalls noch einen groben Rahmen, den die Sozialpartner oder die Verwaltung und am Ende letztlich die Gerichte ausfüllen müssen. In einem jüngsten Beispiel verzichtet das Land NRW in Bezug auf die Regelung der offenen Ganztagsschule sogar ganz auf ein Gesetz und formuliert stattdessen an mögliche Adressaten vage "fachliche Grundlagen". Diese Vorgehensweise, auf Gesetze zu verzichten, schwächt meines Erachtens das Demokratieprinzip.
Finden Sie noch etwas aktuell an den Diskussionen der alten Doktorarbeit?
Brita Weisel Ja, noch immer und immer wieder sind die im Grundgesetz angelegten, zum Teil janusköpfigen Grundprinzipien der individuellen Freiheit und Sozietät untereinander in Ausgleich zu bringen- damit ist jede Generation neu beschäftigt und gibt ihre eigenen Antworten.
Quelle: Caritasverband für das Bistum Aachen