Bei Caritas-Sommertour in Krefeld mit Bundestagskandidaten die Themen Pflege und Migration diskutiert
Unsere Gesellschaft altert. Es gibt immer mehr ältere Menschen und immer weniger junge. Diese mächtige Entwicklung, demografischer Wandel genannt, feiert in Kürze in Deutschland 50. Geburtstag. Mit diesem Bonmot unterstreicht der Krefelder Caritas-Vorstand Delk Bagusat, wie lange schon die Risiken dieses Megatrends den politisch Verantwortlichen bekannt sind. Allein: Es fehlen die Taten, um die Effekte etwa auf das Rentensystem und auf das Pflegesystem nachhaltig abzufedern. In Anwaltschaft für Pflegebedürftige, Angehörige und Beschäftigte kritisiert die Caritas das. Mit ihren verschiedenen Diensten im Bereich der Altenhilfe ist sie unmittelbar betroffen.
Grund genug, diesen Missstand bei der Caritas-Sommertour in Krefeld zu thematisieren. Aufgeschlossen hörten drei politisch Engagierte zu, zum einen die Bundestagskandidierenden Kerstin Radomski MdB (CDU) und Sebastian Schubert (Die Linke), zum anderen Ina Spanier-Oppermann MdL (SPD). Ihnen gegenüber saß eine geballte Portion Fachexpertise. Neben den beiden Krefelder Caritasvorständen Delk Bagusat und Nina Dentges-Kapur gaben Andreas Wittrahm und Stephan Reitz vom Aachener Diözesancaritasverband Einblick in die Fülle der Herausforderungen, die sich mit dem mangelhaft bearbeiteten Politikfeld Pflege verbinden. Aus der Praxis berichten konnten außerdem die Krefelder Einrichtungsleitungen Beate van Tintelen, Altenheim St. Josef, und Thorsten Stockhausen.
Dessen Einrichtung, das Landhaus Maria Schutz, war die Haltestation der Caritas-Sommertour in Sachen Pflege. Es ist ein schöner und gastlicher Ort, bestätigte Carola Müller vom Bewohnerbeirat. Das ländlich gelegene Haus erweitert gerade seine Möglichkeiten, richtet großzügige, multifunktional nutzbare Räume für Tagespflege ein. Ein Fingerzeig auf nur einen der wichtigen gesellschaftlichen Bedarfe im Bereich der Pflege, welche die Caritas aufgreift, obwohl der Rahmen dafür nicht gut ist. Antrieb ist die Hilfe für pflegende Angehörige, die durch die Tagespflege eine Auszeit und Entlastung erfahren, und die Hilfe für alten und kranken Menschen selbst, die in einem solchen Umfeld Struktur und Stärkung erfahren. Die Caritas macht das, obwohl es ein Missverhältnis zwischen dem Verwaltungsaufwand und der Refinanzierung durch die öffentliche Hand gibt. Noch weniger attraktiv aus Einrichtungssicht ist die gesellschaftlich so wichtige Kurzzeitpflege. Dort ist das benannte Missverhältnis noch krasser und kaum zu tragen.
Nur ein Beispiel für die vielen Krankheiten, an denen das Pflegesystem in Deutschland leidet. Wer jemals schon im familiären Umfeld etwas mit der Landschaft pflegerischer Dienste zu tun hatte, erfährt am eigenen Leib, wie komplex das Regelwerk für Hilfen aller Art ist und wie komplex die Rollen und Zuständigkeiten beteiligter Akteure. Im Bemühen, gerechte Lösungen zu entwickeln, ist die Einfachheit auf der Strecke geblieben, resümierte die Runde. Einen echten Ausweg aus diesem Dilemma fand man nicht. In jedem Fall aber braucht es den politischen Mut, viel Geld in eine bessere Ausstattung der Pflege zu investieren, unterstrich Andreas Wittrahm, sonst laufe man zwangsläufig in unwürdige Situationen hinein, die man seit Jahrzehnten überwunden glaubte. Nur ein Stichwort: eine Rückkehr zu Sechs-Bett-Zimmern, wo man jetzt - 2021 - noch die Einzelzimmer ausbaue.
Zentrale Herausforderung: Fachkräftemangel
Die zentrale Herausforderung, schon heute, aber erst recht morgen: der Fachkräftemangel. Viele Faktoren spielen hinein, welche den politisch Engagierten im Gespräch gespiegelt wurden. Es fehlt der Nachwuchs, weil der Beruf nicht genügend aufgewertet wurde und grundsätzliche Mängel im System noch nicht behoben. Ein wichtiger Punkt ist hier insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die jungen Menschen heute bei der Berufsentscheidung wichtiger ist als früher. Sie sind nicht mehr gewillt, allzeit bereit zu stehen für personell unterbesetzte Einrichtungen. Hinzu kommen unnötige bürokratische Barrieren, um Alltagsbegleiter auszubilden. Wenn Nina Dentges-Kapur sieht, wie sie einen motivierten jungen Menschen nach dem nächsten ziehen lassen muss, weil Schulen ihn aus formalen Gründen nicht aufnehmen, kann sie es nicht fassen. Da brennt jemand für die Pflege, ist geeignet - und darf nicht. Da ist das Ganze nicht zu Ende gedacht, kritisiert sie.
Die Zeit drängt, ungelöste Fragen zukunftsfest zu klären. Das Geld spielt bei nahezu allem eine Rolle. Den Caritas-Einrichtungen, die sich in der Frage des Nachwuchses engagieren, wird es schwer gemacht. Ihnen werden bürokratische Aufwände und Risiken bei der Refinanzierung aufgelastet. Der politische Handlungsdruck wächst, denn auch die Belegschaften der Häuser und Dienste werden älter. Pflege fordert Körper und Psyche enorm, spätestens mit 60 sollte eigentlich Schluss sein. Es braucht eine flexiblere, durchlässige Gestaltung der Arbeitsplätze und -einsätze. Und noch eine Herausforderung verbindet sich mit dem wachsenden Durchschnittsalter in der Belegschaft: Immer mehr Beschäftigte rutschen selbst in die Situation hinein, sich neben dem Beruf auch noch um die eigenen alten Eltern oder andere pflegebedürftige Angehörige kümmern zu müssen. Hier gilt es, mit derselben Verve für eine bessere Work-Life-Balance zu werben.
Für all das braucht es mehr Beinfreiheit für die Einrichtungen und das bedeutet unter dem Strich: Sie brauchen mehr Geld. Die Aufwände steigen, die Kosten ebenso, aber der Pflegesatz nicht im gleichen Maß. Der Eigenanteil der Träger, aber auch der Angehörigen läuft zunehmend aus dem Ruder. Noch ist bei den politisch Verantwortlichen nicht abzusehen, wie sie gegensteuern wollen. In der jetzt endenden Legislaturperiode gab es wenig Ehrgeiz, etwas gegen den sich stetig verschärfenden Pflegenotstand zu tun. Trotz Corona haben die Beschäftigten der Caritas-Häuser und -Dienste das Bestmögliche aus den schlechten Rahmenbedingungen gemacht. Aber der Bogen überspannt, da war sich die Runde einig. Alle Anwesenden - insbesondere auch die politisch Engagierten - zeigten sich nach den Argumenten und Fakten der Diskussion überzeugt: Die Not ist so mächtig, dass der nächste Bundestag und die nächste Bundesregierung nicht um eine große Reform der Pflege herumkommen.
Die Arbeit von 2015 ist noch nicht vorbei
Es ist ein Trend, dem die Politik ohne populistische Verkürzung ins Gesicht schauen muss: In Deutschland wächst die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund kontinuierlich. Schon jetzt gehört mehr als ein Viertel der Bevölkerung zu dieser Gruppe, in manchen Städten schon ein Drittel. Vorrangig stammen diese Mitbürgerinnen und Mitbürger aus früheren Gastarbeitergenerationen, aus dem EU-Ausland sowie seit 2015 nochmal verstärkt aus Kriegs- und Krisengebieten.
Die Caritas in Krefeld kümmert sich um die sozialen Anliegen und Nöte dieser Menschen. Zugleich befällt die Fachleute zuweilen der Eindruck, dass sich die politische Aufmerksamkeit für dieses Feld der sozialen Arbeit jenseits aktueller Bedrängnisse rund um Afghanistan abwendet. Grund genug für den Aachener Diözesancaritasdirektor Stephan Jentgens, und die Krefelder Caritasvorstände Delk Bagusat und Nina Dentges-Kapur, bei der Caritas-Sommertour mit Bundestagskandierenden die Migrations- und Flüchtlingsberatung im Hansa-Haus am Hauptbahnhof zum Thema zu machen.
Zu Gast: Ansgar Heveling MdB (CDU), Ulle Schauws MdB (Bündnis 90/Die Grünen), Michael Terwiesche (FDP) und Sebastian Schubert (Die Linke). Sie hörten gut zu, fragten nach, hakten nach. Und nahmen Anregungen mit für ihre Aufgabe, als Parlamentarier Leitplanken zu setzen, wie Kommunen, Wohlfahrtsverbände und andere Akteure im subsidiären Zusammenspiel soziale Dienste an der Bevölkerung leisten. Das Rundgespräch erbrachte zahlreiche Denkanstöße und Einsichten. Der zentrale Punkt: Das Thema Flucht und Migration ist längst nicht abgehakt, zum Beispiel sind die Menschen, die 2015 zu uns flüchteten, noch immer nicht am Ziel.
Bis eine eigenständige Existenz gesichert ist, braucht es viele Schritte, skizzierten die zuständige Fachdienstleiterin Augusta Moreira-Genz und Flüchtlingsberaterin Emilia Kupferschmidt. Zuerst gilt es den Aufenthalt zu verfestigen, ein langwieriger bürokratischer und belastender Prozess, häufig begleitet von Rückschlägen, Einsprüchen und Klagen. Bei vielen, die 2015 nach Deutschland kamen, ist das noch gar nicht abgeschlossen, mit allen fatalen und unwürdigen Folgen. Der Fachdienst steht im offenen Austausch mit der Ausländerbehörde der Stadt Krefeld, um die Menschen richtig über Wege und Chancen zu informieren und die ein oder andere individuelle Lösungen zu erreichen.
Ist der Aufenthaltstitel endlich errungen, setzen sich die Probleme unter anderen Vorzeichen fort. Die Arbeit der Flüchtlingsberatung ist beendet, aber die Begleitung und Unterstützung der Menschen geht nahtlos in die Migrationsberatung über. Denn alle sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Probleme, die Herausforderungen rund um Ausbildung, Arbeit, Wohnen, hören nicht schlagartig auf. Vielmehr erfahren Geflüchtete hier Barrieren und Benachteiligungen wie andere Menschen mit Migrationshintergrund. Dank guter Vernetzung mit Krefelder Institutionen, Organisationen, Unternehmen und Ämtern lässt sich manches zum Guten bewegen. Aber es ist ein Berg von Arbeit.
Diese Kärrnerabeit lässt sich nur mit Hilfe vertrauensvoller Beziehungen in der Stadt schaffen. Umso stärker befremdet und besorgt es die Caritas, wenn politisch diskutiert wird, die Migrationsberatung alle zwei Jahre öffentlich neu auszuschreiben. Kostendämpfung dürfe nicht zu Lasten der Qualität gehen, appellierte Delk Bagusat für fachlich fundierte Entscheidungskriterien. Stephan Jentgens bekräftigte diese Forderung mit Blick auf die schlechten Erfahrungen, die man mit einem solchen Vorgehen auf dem Gebiet der beruflichen Integration von benachteiligten Jugendlichen gemacht hat.
Geld wurde bei Vergabe an Billiganbieter nur kurzfristig gespart, da ihre nur unzureichend in der jeweiligen Region und Stadt angedockten Maßnahmen deutlich weniger Jugendliche in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln konnten. Unter dem Strich wurde es daher teurer für die öffentliche Hand. Besonders fatal: Die ehedem bestehende gesunde Landschaft an gut arbeitenden Einrichtungen wurde ausgetrocknet, ihre beharrliche Aufbauarbeit an tragenden Strukturen und Netzwerken zunichte gemacht. Ein Fehler, den man nicht zweimal machen dürfe, unterstrich Stephan Jentgens.
Was der Stadt Krefeld verloren ginge, wenn sie der Caritas die Finanzierung ihrer Migrations- und Flüchtlingsberatung entzöge, zeigt niemand besser als Narin M. Saed. Vor fünf Jahren aus Syrien geflüchtet, hat sie sich dank der Begleitung und Hilfe der Krefelder Caritas Schritt für Schritt ihre Existenz in Deutschland aufgebaut. Sie lernte Deutsch, hartnäckig, schulterte alle bürokratischen Probleme, mit Caritas an der Seite, bekam Unterstützung bei Arztbesuchen oder beim Anmelden ihrer Kinder in KiTa und Schule, fand in Gruppen Kontakt zu anderen Frauen mit Fluchtgeschichte und Migrationshintergrund. Sie absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Grundschule und steht jetzt davor, als fertig ausgebildete Integrationshelferin eine geregelte Arbeit aufzunehmen.
Damit nicht genug: Narin M. Saed begann früh, etwas zurückzugeben für Gastfreundschaft und Solidarität, die sie als geflüchtete Frau mit Kindern in Krefeld erfahren hat. Inzwischen engagiert sie sich vielfach ehrenamtlich, gibt anderen Frauen weiter, was sie gelernt hat, macht ihnen Mut, inspiriert sie. Mit ihr sprechen viele offener als mit den professionellen Beraterinnen der Caritas, die sprachlichen und kulturellen Barrieren sind niedriger, das Vertrauen entsprechend größer. Narin M. Saed ist eine tragende Säule eines Netzwerkes von 200 Frauen in Krefeld. Sie ist der lebende Beweis, dass es keine romantische Überhöhung ist, von der Bereicherung zu sprechen, welche die Menschen mit ihren vielfältigen kulturellen Wurzeln für die deutsche Gesellschaft bedeuten.
Mehr über kleine Erfolge sprechen
Thomas Kley, Fachreferent beim Diözesancaritasverband, betonte, dass man zudem mehr über die vielen kleinen Erfolge rund um die Integration sprechen müsse, um den Blickwinkel zu verändern und das gesellschaftliche Klima zu verbessern. Das gelte auch für die Politik.
Allerdings seien mit der Zuwanderung aus Gesellschaften, welche andere Prägungen haben als eine mitteleuropäische, auch Probleme verbunden, schüttete sein Kollege Duysal Altinli etwas Wermut in den Wein. Die Sommertour-Runde diskutierte dies am Beispiel des Miteinanders und Machtgefälles bei Frauen und Männern. Die Krefelder Caritas reagiert auf diese Situation, indem sie auch eine Gruppe gegründet hat, in der zugewanderte Männer offen über ihre Gefühle von Zurückstellung und Unterordnung gegenüber ihrer traditionellen Prägung reden können. Aus deutscher Sicht wiederum ist der gesellschaftliche Fortschritt in diesem Feld auch in der Mehrheitsgesellschaft gar nicht ans Ziel gelangt, die Benachteiligung und Ausgrenzung von Frauen etwa im Berufsleben vielfach weiter greifbar. Der kulturelle Unterschied ist also eher ein gradueller, nicht ein grundsätzlicher.
Ohnehin gibt es, so ein Fazit der Diskussion, mehr gemeinsame Herausforderungen für Mehrheitsgesellschaft und Mitmenschen mit Migrationshintergrund, als man so landläufig denkt. Beispiel: Das Leben in Deutschland ist überreguliert und überbürokratisiert. Wie lange wird die Steuererklärung diskutiert, die auf einen Bierdeckel passt? Wann wird es Antragsformulare für soziale Leistungen geben, welche die meisten Bürgerinnen und Bürger ohne fachkundige Beratung verstehen und ausfüllen können? Auf die Arbeit von Flüchtlings- und Migrationsberatung zu schauen, genau hinzuhören, womit diese Einrichtungen zu kämpfen haben, lehrt einen viel über den aktuellen Zustand des deutschen Sozialstaates und des deutschen Gemeinwesens. Es gilt also: Was geflüchtete Menschen und weitere Menschen mit Migrationshintergrund betrifft, geht uns alle etwas an.
Autor: Thomas Hohenschue
Quelle: Caritasverband für das Bistum Aachen