Wenn Flucht Spuren an Leib und Seele hinterlässt
Unter einem Trauma versteht man die Verletzung der Seele durch ein tragisches, erschütterndes, stark belastendes Erlebnis, das außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegt. Kennzeichnend für eine traumatische Situation ist das Erleben von Bedrohung, Ausgeliefertsein, Kontrollverlust, Entsetzen, Hilflosigkeit sowie Todesangst. Durch ein Trauma werden die eigene Sichtweise, das Vertrauen und die Wahrnehmung erschüttert. Die Symptome, die plötzlich auftreten oder sich über einen längeren Zeitraum entwickeln können, werden häufig erst sehr spät erkannt und richtig zugeordnet.
Flüchtlinge haben häufig seelische und körperliche Wunden aufgrund von Menschenrechtsverletzungen erlitten. Häufig sind Frauen und Mädchen Opfer von sexualisierter Gewalt geworden. Man schätzt, dass weltweit rund ein Drittel aller Geflohenen an einer post-traumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. Viele befinden sich außerhalb ihres gewohnten sozialen Umfeldes, soziale und familiäre Netzwerke fehlen. Sie haben nahe Angehörige verloren oder zurückgelassen, sodass ihnen in dieser schwierigen Situation kaum Halt gegeben werden kann, den sie so dringend benötigen.
Die Symptomatik, die bei Kindern und Erwachsenen variieren kann, ist möglicherweise in ihrer Ausdrucksform, wie sich das körperliche Unwohlsein mit seinen Symptomen äußert, kulturell geprägt. Sollten Sie diese Verhaltensweisen bei Flüchtlingen beobachten, ist es angebracht, professionelle, hauptamtliche Unterstützung zu kontaktieren. Vermitteln Sie zu professionellen Stellen, nehmen Sie Kontakt zu Flüchtlingsberatungsdiensten auf.
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Kinder
Konflikte und Flucht führen oft zu großen Lücken in der medizinischen Versorgung. Häufig sind Kleinkinder nicht ausreichend oder nur unregelmäßig gegen vermeidbare Krankheiten geimpft worden. Sie leiden an diesen für uns vermeidbaren und übertragbaren Krankheiten wegen fehlender Immunisierung. Unhygienische Verhältnisse in Notunterkünften während der Flucht belasten das schwache Immunsystem zusätzlich, sodass Kinder besonders von Hautausschlägen und Infekten betroffen sind. Kinder leiden nicht selten bei seelischen Belastungen ihrer Eltern mit. -
Frauen und Mädchen
Frauen und Mädchen sind in Konflikten und während der Flucht besonderen Gefahren ausgesetzt; dies kann sich auch in Flüchtlingskreisen hier in Deutschland fortsetzen. Nicht selten wird ihre Abhängigkeit, Ausweg- und Mittellosigkeit sowie Unwissenheit beispielsweise von Schleusern und Menschenhändlern ausgenutzt. Oftmals sind Frauen und Mädchen, die hier in Deutschland ankommen, Opfer von sexualisierter Gewalt geworden. Dazu zählen auch Zwangsheirat, Zwangsprostitution, Zwangsabtreibung sowie Vergewaltigung und Genitalverstümmelung mit weitreichenden körperlichen und seelischen Folgen. Auch eventuelle abgebrochene Schwangerschaften oder Früh-/Totgeburten können bei Frauen Spuren hinterlassen haben. Häufig erhalten schwangere Frauen hier erstmals eine gynäkologische und medizinische Versorgung. Es ist wichtig, Risikoschwangerschaften zu erkennen; die Mütter müssen auf die Geburt in einer neuen Umgebung vorbereitet werden. -
Hinweise auf psychische Beeinträchtigungen und Erkrankungen können folgende Verhaltensweisen sein:
- ständige Gedanken und Rückblenden an das traumatische Erlebnis
- massive Versuche, das traumatische Erlebnis zu ignorieren, nicht darüber zu reden oder daran zu denken
- Gefühle emotionaler Betäubung und der Isolation
- andauernde Schlafstörungen und Albträume
- Grübelneigung/Grübelzwang
- Nervosität/Reizbarkeit/Neigung zu aggressiven Verhaltensweisen
- Ängste und Schreckhaftigkeit
- niedergedrückte Stimmung, häufiges Weinen
- Gedächtnis-, Erinnerungs- und Konzentrationsstörungen, Entscheidungsschwierigkeiten
- Interesse- und Lustlosigkeit, niedriges Selbstwertgefühl
- Misstrauen sowie Schuld- und Schamgefühle
- Angst, verrückt zu sein oder verrückt zu werden
- Gefühle von Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit, die zu Suizidgedanken und
-versuchen führen können - vielfältige körperliche Beschwerden (oft verbunden mit chronischen Schmerzen)
Flüchtlinge, die unter diesen Symptomen leiden, haben Schwierigkeiten, sich neu zu orientieren, ihr Leben aktiv zu bewältigen und Herausforderungen durchzuhalten. Dies kann sich in vielerlei Hinsicht auswirken. Sie zweifeln z.B. an sich selbst oder ihren Fähigkeiten und sind deshalb mutlos, etwas Neues zu beginnen.
Manchmal fällt es ihnen nicht leicht, um Hilfe nachzusuchen. Oder sie fordern massiv ein, dass Sie vieles abnehmen, was die Flüchtlinge eigentlich selbst leisten können. Einige Flüchtlinge kontaktieren aufgrund ihres Misstrauens und/oder ihrer Unsicherheit gleich mehrere Berater (dabei erhalten sie oft auch unterschiedliche Auskünfte) und wissen dann nicht mehr, woran sie sich orientieren sollen. Auch die langjährige Lebenssituation als Asylbewerber oder geduldeter Flüchtling sowie die Unsicherheit während des Dublin-Verfahrens sind stark belastend und können zu Re-Traumatisierungen durch das erneute Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein führen. Ängste, eventuell doch in das Heimatland zurück zu müssen, können viel Energie blockieren und den Lebensmut einschränken. Die Erfahrung der betreffenden Person, etwas für sich tun, etwas aktiv gestalten, Selbstwirksamkeit erfahren zu können, ist wichtig zur Traumabewältigung.
Einige Flüchtlinge leiden schon seit Jahren an Beschwerden, die wegen eingeschränkter Krankenhilfeleistungen (s. Kapitel 4), sprachlicher Probleme und isolierter Unterbringung häufig nicht einer ausreichenden Behandlung zugeführt wurden. Die Erfahrungen können auch das Asylverfahren beeinflussen, wenn Betroffene nicht in der Lage sind, über die schrecklichen Erlebnisse zu sprechen. Oft bestehen auch nach den Erfahrungen im Heimatland Ängste, mit einem Beamten zu sprechen, sodass viele wichtige Aspekte während der Anhörung verschwiegen werden, die jedoch für eine positive Entscheidung im Asylverfahren relevant sind. Auch Widersprüche, die beim Asylvortrag auftreten, sind keine Seltenheit; sie sind überwiegend auf durch Traumatisierung bedingte Gedächtnisstörungen zurückzuführen. Häufig wird dann später eine psychologisch-fachliche Begutachtung zur gesundheitlichen Situation des Betroffenen erforderlich.