Demenz aus dem Tabu holen
Christoph Venedey blättert in der Broschüre, die das Projekt "Demenzfreundliches Haaren" beschreibt, das der Leiter des Seniorenzentrums am Haarbach ins Leben gerufen hat. DiCV Aachen
Er wollte Architektur studieren. Auch wenn Christoph Venedey noch nie ein Haus, geschweige denn eine Stadt entworfen hat, in Stadtteilplanung kennt er sich aus. Zumindest wenn es darum geht, den Aachener Stadtteil Haaren auf die Bedürfnisse an Demenz erkrankter Menschen hin auszurichten. Der geschäftsführende Leiter des Senioren- und Begegnungszentrums Am Haarbach der Pfarrei Christus unser Bruder hat das Projekt "Demenzfreundliches Haaren" entwickelt. Die Idee spricht sich mittlerweile rum. Im Dezember 2015 hat die Jury des Rudi-Assauer-Preises diesem Projekt den dritten Preis, der mit 1.000 Euro dotiert ist, zuerkannt. Der Preis fördert unter anderem Einrichtungen, die sich besonders in der Betreuung von Demenzpatienten und ihren Angehörigen engagieren.
Nach dem Zivildienst im Erkelenzer Hermann-Josef-Krankenhaus begann Venedey, der aus Granterath bei Erkelenz stammt, eine Schreinerlehre. Sie sollte als Vorbereitung auf das Architekturstudium dienen. "Da habe ich dann festgestellt, dass es eigentlich der Mensch ist, der mich interessiert. Also habe ich in Aachen Sozialarbeit studiert", erzählt der 53-Jährige, der heute in Hückelhoven-Baal lebt. Praktika während des Studiums führten ihn in eine Nichtsesshafteneinrichtung in Stuttgart, in das Jugendgefängnis Heinsberg und zum Gesundheitsamt Aachen, bevor Venedey seine erste Stelle im Therapiezentrum Haus Welchenbergkrankenhaus in Grevenbroich- Neuenhausen antrat, das 1990 ein Haus für chronisch Suchtkranke eröffnet hatte. 1997 übernahm der Sozialarbeiter schließlich die Leitung des Hauses Christophorus in Stolberg. Seine Aufgabe war es dort, das soziotherapeutische Wohnhaus für suchtkranke Frauen und Männer des Regionalen Caritasverbandes Aachen-Stadt und Aachen-Land aufzubauen. Im Oktober 2002 wurde er geschäftsführender Heimleiter des Seniorenzentrums Am Haarbach in Haaren. Es bietet 69 Pflegeplätze und acht Plätze für betreutes Wohnen, zudem gehören eine Begegnungsstätte und eine externe Gruppe für betreutes Wohnen für acht Personen dazu.
Ohne seine beruflichen Erfahrungen in der Soziotherapie, die ihn immer ressourcenorientiert auf die ihm anvertrauten Menschen schauen ließ, wäre Christoph Venedey möglicherweise nie auf die Idee gekommen, das Projekt "Demenzfreundliches Haaren" in Angriff zu nehmen. Den Anstoß dazu gab ein Vortrag der niederländischen Pädagogin und Marte Meo-Begründerin Maria Aarts vor Fachleuten der Kinder- und Jugendhilfe in Berlin.
Marte Meo, was so viel bedeutet wie "aus eigener Kraft", ist ein Konzept, welches ursprünglich aus der Kinder- und Jugendhilfe kommt, bei dem die Eltern und Bezugspersonen aktiv in die Arbeit mit Kindern einbezogen werden. Dies geschieht mit Hilfe der Videointeraktionsanalyse. Das, was positiv gelaufen ist, wird in der anschließenden Auswertung hervorgehoben, um Entwicklungsbotschaften zu erkennen und Menschen die Gelegenheit zu geben, aus eigener Kraft ressourcenorientierte Interaktionsmodelle zu erlernen.
"Dinge, die funktionieren, macht Maria Aarts mit ihrer Methode groß. Ich habe sie gefragt, ob das nicht auch für die Altenhilfe und im Umgang mit Dementen funktionieren könnte. 2008 hat Maria Aarts die erste Inhouse-Schulung in unserem Haus gemacht. Unsere Mitarbeiter werden regelmäßig geschult, auch die der Hauswirtschaft", sagt Venedey.
Worum es im Umgang mit demenziell erkrankten Menschen geht, erläutert der Geschäftsführer des Seniorenzentrums an einem Beispiel. An Demenz erkrankte Bewohner des Hauses haben das Bedürfnis, in den Ort zu gehen, so wie sie es früher taten. Die Umgebung sollte keine Berührungsängste mit demenziell erkrankten Menschen haben, sondern Normalität leben, mit ihnen ins Gespräch kommen. "Wenn ein demenziell erkrankter Mensch hier im Frischemarkt im Ort am Obststand stehen bleibt, kann ich das als Kontakt nutzen und über diesen Kontakt den nächsten Schritt tun. Ich gehe auf das ein, was von meinem Gegenüber kommt, nicht auf das, was von mir kommt. Wenn er vor den Erdbeeren stehen leibt, rede ich mit ihm über Erdbeeren, nicht über Bananen." Mittlerweile merkt Venedey, dass sich das Personal des Geschäftes tatsächlich auf die demenziell erkrankten Menschen einzustellen beginnt, auch die Mitarbeiter anderer Geschäfte, der Verwaltung, der Feuerwehr, der Polizei, die Venedey zu Partnern seines Projektes gemacht hat. "Wahrnehmen ist ein wichtiges Element. Wenn an der Kasse im Supermarkt ein Betroffener sein Portemonnaie nicht findet und der Kassierer das merkt und zum an Demenz erkrankten Menschen sagt, er solle sich Zeit lassen, beruhigt er ihn. Er gibt aber zugleich den Wartenden das Signal, dass er sich erst um den dementen Menschen kümmert. Das nimmt aus Sicht des Dementen unheimlich viel Druck aus der Situation, der Kassierer behält die positive Leitung ", erläutert Venedey.
"Ich wollte das Thema Demenz aus dem Tabu holen", sagt der Geschäftsführer des Seniorenzentrums. Zum Neujahrsempfang des Stadtbezirks im Januar 2014 sprach er erstmals öffentlich über seine Idee. Vertreter aus Politik, Geschäftsleben, Kirchen, Vereinen und den Behörden waren da, sagten Unterstützung zu. Und Venedey begann, durch den Ort zu tingeln und über seine Idee zu reden. Gemeinsam mit einer Aachener Werbeagentur entwickelte er eine Broschüre und drehte einen Film. "Film und Broschüre haben wir ganz bewusst gemacht, um die Leute für unser Projekt ins Boot zu holen. Der Ort wird darin wertgeschätzt, die Menschen, die dort leben. Alle, die in Kontakt mit demenziell erkrankten Menschen kommen, sind in Film und Broschüre in den Mittelpunkt gerückt worden, auch die Betroffenen, und alle teilen jetzt die Idee demenzfreundliches Haaren", sagt Venedey. Eine Krankenkasse finanziert mittlerweile für Angehörige von Demenzpatienten Kurse, die nach der Marte Meo-Methode funktionieren. "Die Idee lässt sich auf jede Kommune übertragen, erste Anfragen gibt es auch. Der nächste Schritt ist, das Projekt auch wissenschaftlich auswerten zu lassen", sagt Venedey.
Ob er nicht doch Architekt geworden ist? Venedey ist bescheiden. Die Antwort ist zögerlich und kurz: "Kann sein." Christoph Venedey lächelt.