Aus der Katastrophe für die nächsten Krisen lernen
Diözesancaritasdirektor Stephan Jentgens in seinem Büro vor einem Kunstwerk der Aachener Künstlerin Angelika Zaunmüller, das im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe im Juli 2021 entstanden ist.DiCV Aachen
Die Flutkatastrophe, die sich am 14. Juli 2022 zum ersten Mal jährt, hat Tausende Menschen im Bistum Aachen zutiefst in ihrer Existenz getroffen. Die verbandliche Caritas, das gesamte Geflecht von regionalen Caritasverbänden, Fachverbänden, Diözesancaritasverband, Diensten und Einrichtungen, hat sich sofort mit großer Kraft an ihre Seite gestellt. Sie hat dort geholfen, wo und wie es erforderlich war, um individuelle, familiäre und soziale Not abzuwenden oder zumindest zu lindern. Auf dieses Miteinander und Geschehen schaut Stephan Jentgens mit den Augen eines Verantwortlichen, der Hilfen für Menschen immer besser machen möchte.
Als Diözesancaritasdirektor fühlt er sich einer wirkungsvollen Weiterentwicklung der freien Wohlfahrtspflege verpflichtet, nicht zuletzt im Austausch mit politischen und administrativen Akteuren. An der Fluthilfe, wie sie die Caritas im Bistum Aachen gestaltete und gestaltet, gab und gibt es viel zu lernen. Zum Beispiel über die Leistungs- und Leidensfähigkeit von Systemen, Einrichtungen und Mitarbeitenden bei Wohlfahrtsverbänden und staatlichen Stellen. Oder über das Potenzial vertrauensvoller Kooperation über institutionelle Grenzen hinweg.
Stephan Jentgens hat viele Impulse für die Weiterentwicklung aus diesem ersten Jahr der Fluthilfe mitgenommen. Für ihn ist die Zusammenarbeit der freien Wohlfahrt, wie sie sich im gemeinsamen Hilfszentrum Schleidener Tal verwirklicht, zukunftsweisend. Wo es so nicht möglich ist, möchte er die Kompetenzen im Verband stärken und einbeziehen, zum Beispiel bei der psychosozialen Begleitung von traumatisierten Betroffenen aus Stolberg und Eschweiler. Und die freie Wohlfahrtspflege insgesamt sieht er durch die sozialen und wirtschaftlichen Dominoeffekte der Flut herausgefordert, zum Beispiel bei Wohnungslosigkeit, Schulden, Familien- und Paarproblemen.
Die Caritas im Bistum Aachen ist - auch mit Hilfe von Spendengeldern, die unter anderem von Caritas international oder dem Bistum eingeworben wurden - in Vorleistung gegangen, hat Personal eingesetzt, ohne dass es öffentlich gefördert wurde. Im Gegenteil ist in kommunalen Verwaltungen für die Fluthilfe ein Stellenaufwuchs betrieben worden, für den zum Teil aber kein Personal gefunden wurde. Die an diese Stellen gebundenen Steuergelder hätten besser in die Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege wie der Caritas investiert werden sollen, kritisiert Stephan Jentgens und fordert für die Zukunft eine Strukturförderung durch die öffentliche Hand. Schließlich sei dieses Engagement noch auf Jahre hin erforderlich.
Überhaupt hört Stephan Jentgens viel über die staatlichen Hilfen, über eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Unbürokratisch und einfach ist da gar nichts. Gerade Menschen ohne akademische Bildung oder mit sprachlichen Barrieren sind überfordert, am Bildschirm oder auch im Gespräch mit kommunalen Gesprächspartnern. Zwischen den Zeilen hört der Diözesancaritasdirektor aus den Berichten der Caritasmitarbeitenden auch noch ganz andere Wahrnehmungen heraus, von einer Ungleichbehandlung von Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel. Gutachter von Versicherungen schätzen die Ansprüche von Betroffenen häufig mit zweierlei Maß ein.
Neben diesen sozialen Verwerfungen sieht Stephan Jentgens mit großer Sorge, wie teilweise die strukturellen Verwerfungen aussehen. Vielfach hat die Flut neben Privatwohnhäusern auch medizinische und soziale Infrastruktur beschädigt und zerstört, KiTas, Altentreffs, Arztpraxen, Geschäfte und und und. Der Wiederaufbau dieser Infrastruktur ist zum Beispiel in Stolberg weiter ein riesiges Thema. Dass in der Kupferstadt quartiersbezogen daran gearbeitet wird, mit der örtlichen Bevölkerung und den Initiativen und Vereinen, begrüßt der Diözesancaritasdirektor als genau den richtigen Ansatz. Das Modell möchte er in andere Kommunen tragen, soweit nötig, und dabei die Expertise der verbandlichen Caritas einbringen, in Partnerschaft mit den Betroffenen.
Denn eine Lektion aus der Flutkatastrophe und ihrer Bewältigung ist Stephan Jentgens besonders wichtig: Alle miteinander müssen wir uns besser auf künftige Krisen einstellen. Das Wissen, das nun die Mitarbeitenden der Caritas erworben haben, will er sichern, auch strukturell. Die dichte Abfolge von Coronakrise, Flut und nun den Flüchtlingen aus der Ukraine lehrt, dass es eine rasche Reaktionsfähigkeit und hohe Flexibilität aller Beteiligten braucht, um betroffenen Menschen bestmöglich zu helfen und die eigenen Strukturen nicht zu überfordern. Die Caritas im Bistum Aachen sieht der Diözesancaritasdirektor auf einem guten Weg zu einer solchen Kultur. Organisationen, die vertrauensvoll kooperieren und stetig lernen, gehört die Zukunft, ist Jentgens überzeugt.
Autor: Thomas Hohenschue