Wenn die öffentliche Aufmerksamkeit woanders ist
Stephanie SchweitzerRCV Heinsberg
Die Landschaft der Gebiete, die von der Flutkatastrophe im Juli 2021 betroffen waren, ist wahrlich unübersichtlich. Die allgemeine Erinnerung verblasst, wo überall das Wasser ein zerstörerisches Werk anrichtete. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich zunehmend auf die Regionen und Städte, in denen das Landschafts- und Straßenbild schwere Verwüstungen aufwies. Dabei gab es an so vielen Orten stille, zum Teil fatale Überschwemmungen, deren Folgen betroffene Menschen bis heute in Atem halten.
Zum Beispiel im Kreis Heinsberg.Rund 900 Haushalte sind von der Flut betroffen gewesen, allein 400 in Geilenkirchen, bei denen die Menschen in der Flutnacht und den Folgetagen einen vergeblichen Kampf gegen die Wassermassen führten. Zuerst kam das Wasser von der einen Seite, dann strömte es auf einmal zusätzlich aus einer anderen Richtung. Gärten, Keller und Erdgeschosse wurden plötzlich aus zwei Richtungen überflutet. Das gleiche erlebten Betroffene in Randerath und Ophoven.
Stephanie Schweitzer erfährt bis heute immer wieder, was diese Erfahrung mit den Menschen macht. Die Erlebnisse dieser Nacht und Tage gruben sich tief in die Seelen ein. So kommt es bei Starkregen vor, dass die eine Person immer wieder in den Keller geht, um nachzusehen, dass auch ja kein Wasser hereinläuft. Oder ein anderer macht sich andernorts auf, um zu überprüfen, ob der Damm hält.
So viele Geschichten hört sie in den Gesprächen. Teilweise sind die Menschen evakuiert worden in jener Zeit, teilweise sahen sie aus dem Erd- oder Obergeschoss zu, wie das Wasser seinen Lauf nahm. In einem Stadtviertel drückten die Bugwellen von Rettungsbooten Fenster oder Türen ein. Später dieser Gestank, der Geruch von Öl, überall, bis in den Oktober hinein. Aufgequollene Holzböden. Risse in den Wänden. Und die Feuchtigkeit, die in den Mauern hochkriecht. Von der Nacht selbst oder aber vom Wasser, das sich unter den Bodenplatten seinen Weg ins Mauerwerk bahnt.
Hinzu kommen die Schwierigkeiten, die zurzeit jeder hat, der bauen möchte, wie Handwerkermangel und Baustoffpreise. Auch hier beobachtet Stephanie Schweitzer vereinzelt die Folgen der verschobenen Aufmerksamkeit. Manche regionalen Handwerker konzentrieren sich, durchaus nachvollziehbar, auf die Regionen um Stolberg und Eschweiler.
All das kommt zur Sprache, irgendwann eigentlich immer, wenn die Sozialarbeiterin des Regionalen Caritasverbandes Heinsberg an Haustüren von Betroffenen klopft. Nach der ersten Überraschung freuen sich die Menschen in der Regel, dass sich jemand für ihr Schicksal interessiert. Die Caritas-Mitarbeiterin hat aus einem Bauchgefühl heraus oder dank eines Tipps den Weg zu ihnen gefunden. Einfach umhören, wie es so in der Straße oder im Viertel aussieht, ist oft der erste Schritt. Das andere ergibt sich.
Wenn Stephanie Schweitzer mit den Betroffenen spricht, erlebt sie immer wieder, dass diese ihre erlittenen Schäden relativieren. Die Leute im Ahrtal und der Eifel hat es ja viel schlimmer getroffen. Indem sie sich mit der Not der anderen vergleichen, kommen sie teilweise gar nicht auf den Gedanken, sich Unterstützung zu holen. Immer wieder wissen sie auch nicht, dass ihnen staatliche Gelder zustehen. Das hat mit dem eingangs skizzierten Bild der öffentlichen Wahrnehmung zu tun. Schon allein der Name des Hilfsprogramms - Wiederaufbau - führt diese Menschen in die Irre, sagt die Sozialarbeiterin.
Es sind die genannten Geschichten, die sich in das Gedächtnis der Betroffenen eingraben, auch wenn es anderenorts nicht so wahrgenommen wird. Umso wichtiger ist es, wenn die Menschen das Gefühl erhalten, etwas gegen die erlebte Machtlosigkeit tun zu können. Mancherorts mit städtischen Planern über die eigenen Erfahrungen und ihre Ideen zu sprechen, wie sich der Hochwasserschutz verbessern lässt, hilft ihnen bei der emotionalen Verarbeitung. Den Betroffenen tut es gut, ihren Teil dazu beitragen zu können.
Autor: Thomas Hohenschue