Gewaltschutz geht nur in Teamarbeit
Anne Schilling und Michelle Souvignier (v.l.) sind Präventionsfachkräfte im Vinzenz-Heim mit Standorten in der Stadt und der Städteregion Aachen.Anne Laumen
Wären Anne Schilling und Michelle Souvignier als Präventionsfachkräfte im Vinzenz-Heim Einzelkämpferinnen, die beiden Mitarbeiterinnen des psychologisch-heilpädagogischen Dienstes in der Einrichtung für Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen mit Behinderung stünden auf verlorenem Posten. Sexualpädagogische Multiplikatoren unterstützen sie.
Und das kam so: Früh erkannte der Träger, dass es nicht allein um Prävention sexualisierter Gewalt gehen könne. Mit einem Verhinderungsblick alleine könne kein Gewaltschutz betrieben werden, sagt Diplom-Heilpädagogin Anne Schilling: "Wir hielten es für wichtig, durch Sexualpädagogik Menschen zu befähigen, in einer wissenden Weise ihre Sexualität zu leben", erzählt die 44-Jährige. Vor zehn Jahren entstand zum Thema Umgang mit Sexualität die Idee, sexualpädagogische Multiplikatoren zu etablieren, in jeder Abteilung mindestens einen. Zwei- bis dreimal jährlich treffen sich nun Anne Schilling und Michelle Souvignier mit den Multiplikatoren.
Bei den Treffen sprechen sie oft darüber, wie Mitarbeitende Anlässe erkennen, um sexualpädagogisch zu arbeiten oder Angebote für sexuelle Bildung zu machen. "Unsere Bewohnerinnen und Bewohner haben ein Recht darauf, beim Thema Sexualität begleitet zu werden, und wir müssen schauen, wie wir das hinbekommen", sagt Michelle Souvignier.
Darüber hinaus werden gemäß dem Gewaltschutzkonzept des Vinzenz-Heims alle Mitarbeitenden jährlich zum Thema Gewaltschutz geschult. "Konzepte schreiben ist gut. Wenn das Konzept leben soll, muss es auf einer anderen Ebene wachgehalten werden, und diesem Ziel dienen die Schulungen", erläutert die 31-jährige Michelle Souvignier, die einen Bachelor in Psychologie und einen Master in Reha-Wissenschaften hat.
Die Einrichtungsleitung ermutigte immer wieder dazu, über das Thema Sexualität zu sprechen und Aufklärung als Teil des pädagogischen Auftrags der Mitarbeitenden zu sehen. Im Vinzenz-Heim, das Standorte in der Stadt und Städteregion Aachen hat, sind noch Mitarbeitende tätig, die bereits in der Einrichtung waren, als das Haus noch von Nonnen geführt wurde. "In den 1980er- und 90er Jahren war es noch in einigen Wohngruppen beim Thema Sexualität so: Die Decke bis hier oben und nicht drüber reden", sagt Anne Schilling.
Wenn in einer Wohngruppe über das Thema Menstruation oder den Gang zum Frauenarzt gesprochen wird, kann das Anlass sein, sexualpädagogisch tätig zu werden. "Da gibt es Tisch-Themen, die in der Gruppe besprochen werden können, aber auch Zimmer-Themen, für die ein Einzelsetting notwendig ist", sagt Michelle Souvignier. Anne Schilling erinnert sich an einen Jugendlichen mit Behinderung, bei dem die Mitarbeitenden der Wohngruppe vermuteten, dass seine Versuche zur Selbststimulation nicht befriedigend waren. Mit Bildmaterial und einem Kunst-Penis versuchten sie zu erklären, wie es besser funktionieren könnte. "Das ist passive Sexualassistenz, die dürfen wir durchführen, aber wir dürfen selbstverständlich niemanden intim berühren", sagt Anne Schilling. Auch wenn in einer Wohngruppe ein Paar den Wunsch hat, das Bett zu teilen, sind die Mitarbeitenden gefordert, zu unterstützen.
"Der Unterschied zwischen der Welt hier drinnen und da draußen ist eigentlich gar nicht so groß", sagt Michelle Souvignier. Im Vinzenz-Heim komme es wesentlich darauf an, Zusammenhänge in einer leichten Sprache zu erklären. Sehnsüchte zu haben, sei völlig in Ordnung, den Menschen müsse nur klargemacht werden, das diese so ausgelebt werden müssten, dass es für alle Beteiligten in Ordnung sei. Ein Nein muss akzeptiert werden. "Unsere Mitarbeitenden sind angehalten, die Bewohner beim Erkennen und Benennen der eigenen Grenzen, Wünsche und Bedürfnisse zu unterstützen und dazu gehört auch, zu sagen, was sie nicht wollen." erläutert Anne Schilling.
Michelle Souvignier und sie sind in ihrer Funktion nicht in den Gruppendienst eingebunden. "Über den Blick von außen fällt es uns leichter, Menschen und Situationen ganzheitlich zu sehen. Wir schauen anders auf die Systeme. Wir können uns Zeit nehmen und die Tür zu machen, das können die Kolleginnen im Gruppendienst oft nicht", sagt Anne Schilling. Den größten Unterschied zur Arbeit mit Menschen, die kognitiv nicht eingeschränkt sind, sieht Michelle Souvignier darin, dass sie im Vinzenz-Heim viel mehr mit Hypothesen arbeiten und so viel mehr vermuten müssen.
Das Ziel aber ist klar: Bewohnerinnen und Bewohner zu bestärken für das einzustehen, was sie als gut oder nicht gut empfinden. Das beginne bei Kleinigkeiten, erläutert Michelle Souvignier: "Ich renne nicht einfach ins Zimmer, ohne anzuklopfen. Oder ich gehe nicht einfach in ein Zimmer, wenn nicht herein gesagt worden ist." Achtsamkeit dafür, was der andere Mensch wolle oder nicht, sei der Schlüssel zu mehr Gewaltschutz."