"Nach den Erfahrungen der Beratungsstellen der verbandlichen Caritas im Bistum Aachen werden viele Hartz IV-Bezieher sanktioniert, die von psychischen Beeinträchtigungen, Suchterkrankungen, funktionalem Analphabetismus oder interkulturellen Verständigungsschwierigkeiten betroffen sind", sagt Roman Schlag, Fachreferent für Arbeitsmarktfragen beim Caritasverband für das Bistum Aachen. Die harten Sanktionen erreichten selten das Ziel, die Betroffenen zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Jobcenter zu bewegen und sie auf den Arbeitsmarkt zu bringen. "Dieser Personenkreis benötigt vielmehr eine Beratung und Unterstützung, die Rücksicht auf individuelle Situationen nimmt", so Schlag weiter.
In der Debatte um die Sanktionierung von Hartz IV-Beziehern hat das Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM) der Hochschule Koblenz im Auftrag der Freien Wohlfahrtspflege NRW erstmals Zahlen für Nordrhein-Westfalen ausgewertet. Die aktuellen Zahlen zeigen für das Bistum Aachen, dass es dort im vergangenen Jahr knapp 21.002 neu ausgesprochene Sanktionen gab. Jeden Monat waren hier rein rechnerisch rund 3.100 Hartz IV-Empfänger von mindestens einer Leistungskürzung betroffen. Diese Zahl liegt in der Jahressumme, für die die Bundesagentur für Arbeit keine Statistik vorlegt, jedoch weit höher. Der Caritasverband für das Bistum Aachen bemängelt das Fehlen dieser Daten, schließlich würden monatlich nicht immer dieselben Personen sanktioniert.
NRW-weit sind 78 Prozent der rund 220.000 neu ausgesprochenen Sanktionen im Jahr 2017 auf Meldeversäumnisse beim Jobcenter zurückzuführen. Die gleiche Tendenz ist auch im Bistum festzustellen: Rund 76 Prozent der Sanktionen erfolgte, weil vom Jobcenter angeordnete Termine nicht eingehalten wurden. Nur etwa 7,2 Prozent der Maßregelungen wurden ausgesprochen, weil sich die Betroffenen weigerten, eine Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme aufzunehmen oder fortzuführen.
"Gemessen an der Schwere der Verstöße sind die Leistungskürzungen deutlich zu hoch. Sie führten dazu, dass die Menschen tiefer in Notlagen abrutschen", sagt Roman Schlag. Zehn bis 60-prozentige Kürzungen des Regelsatzes, der ohnehin nur das Existenzminimum sichere, bedeuteten für Hartz IV-Bezieher eine Katastrophe, so der Arbeitsmarktexperte der Caritas im Bistum Aachen. Das Geld reiche dann nicht mehr für eine Zeitung, ein Buch oder ein Busticket. Bei höheren Kürzungen sei schnell das pure physische Existenzminimum bedroht.
Die Untersuchungen des ISAM zeigen, dass Hartz IV-Bezieher unter 25 Jahren überdurchschnittlich stark von Sanktionen betroffen sind, da ihr Regelsatz bei einer Pflichtverletzung komplett entfällt. Bei unter 25-Jährigen ist es gesetzlich erlaubt, bereits beim ersten Verstoß Leistungen soweit zu kürzen, dass nur noch die Kosten für Unterkunft und Heizung gedeckt sind. Im Wiederholungsfall wird oft gar kein Geld mehr gezahlt. 2017 wurde Hartz IV-Beziehern unter 25 Jahren im Bistum Aachen die monatliche Gesamtregelleistung durchschnittlich um rund 125 Euro gekürzt. "Die besonders drastischen Sanktionen für Jugendliche führen dazu, dass sich deren prekäre Lebenslagen zuspitzen. Viele Jugendliche brechen nicht nur den Kontakt zum Jobcenter ab, sondern verschwinden in sozialer Isolation, Kleinkriminalität, Schwarzarbeit, Suchtmittelkonsum oder Verschuldung", beklagt Roman Schlag.
Damit nicht noch mehr junge Menschen verloren gehen, fordert der Caritasverband für das Bistum Aachen, umgehend die besonders scharfen Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige abzuschaffen. Die Forderung unterstützt auch eine aktuelle Online-Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Darin lehnt die Mehrheit der Befragten härtere Sanktionen für unter 25-Jährige ab.
Ob die Kürzung des Arbeitslosengeldes II mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbart ist, prüft derzeit das Bundesverfassungsgericht. Noch für das laufende Jahr 2018 hat es ein Urteil angekündigt, das die Freie Wohlfahrtspflege NRW mit Spannung erwartet. "Die Grundsicherung ist mehr als eine arbeitsmarktpolitische Leistung. Sie umfasst das, was Menschen zum Leben bleibt, wenn alle Stricke reißen. Es geht hier um nicht weniger als die grundsätzlich geschützte Würde des Menschen", sagt Roman Schlag.