Das bedeutet für mich Toleranz
von Dr. Mark Brülls
In Zeiten der Corona-Pandemie ist körperliche Distanz ein wichtiges Gebot, das das Risiko einer Ansteckung verringern soll. Deshalb ärgere ich mich über den Mann, der mir im Supermarkt auffällt: Er drängt sich mit seinem Einkaufswagen dicht an mir vorbei, sucht wiederholt die Nähe zu anderen Kunden und hält in der Schlange an der Käsetheke nicht den Abstand ein, den die Bodenmarkierungen nahelegen. Warum kann sich dieser Mann nicht an die Abstandsregel halten, die dem Schutz von uns allen dient? Warum diese Rücksichtslosigkeit? An der Kasse schließlich kommt mir der Mann unnötig nahe. Trotz meines Ärgers gelingt es mir, ihn ruhig und höflich darum zu bitten, Abstand zu wahren. Ohne eine weitere Reaktion tritt er zwei Schritte zurück.
Auf dem Weg nach Hause läuft mir die Situation im Supermarkt gedanklich und emotional nach. Mein Ärger, so stelle ich fest, basiert auf der Unterstellung von Rücksichtslosigkeit. Welche anderen Gründe aber könnten den Mann zu einem Verhalten veranlasst haben, mit dem er andere und auch sich selbst gefährdet? War es Unwissenheit? Hatte der Mann eine kognitive Einschränkung? Oder war es Einsamkeit, die ihn die Nähe zu anderen Kunden hat suchen lassen? Im Nachhinein werde ich keine Antwort auf diese Fragen finden können, muss aber selbstkritisch feststellen, dass mir die Tugend der Toleranz in dieser Situation im Supermarkt weitgehend abhandengekommen ist.
Toleranz soll dem Menschen helfen, Vorurteile zu überwinden und den anderen in seinen Eigenheiten zu akzeptieren. In enger Verbindung zur Toleranz stehen die Tugenden der Dialogfähigkeit und des Friedens. Gemessen daran habe ich mich im Supermarkt nicht gerade tugendhaft verhalten. Auch wenn das distanzlose Verhalten des Mannes angesichts der Corona-Pandemie falsch war, habe ich ihn darüber hinaus als rücksichtslos vorverurteilt, ohne andere mögliche Beweggründe für sein Verhalten in Betracht gezogen zu haben. Immerhin habe ich ihn an der Kasse friedlich um die Einhaltung von Abstand gebeten, ein Dialog aber ist aus dieser Situation nicht entstanden. Das bedaure ich - am meisten für den Fall, dass das Verhalten des Mannes durch Einsamkeit verursacht worden sein könnte.
Toleranz, so wird mir deutlich, ist keine leichte Tugend. Auch wenn ich mich selbst für einen prinzipiell offenen und toleranten Menschen halte, wird Toleranz doch zu einer schwierigen Tugend, wenn sie mich etwas kostet - in diesem Fall das Eingeständnis, einen Menschen vorverurteilt zu haben. "Sei gut, Mensch" - im Sinne der Jahreskampagne der Caritas will ich mich darin üben, die Eigenheiten anderer zu akzeptieren, die Beweggründe für ihr Handeln zu verstehen und hierfür den vielleicht kritischen, aber doch friedlichen Dialog mit ihnen zu suchen.
Unser Autor ist Fachreferent in der Geschäftsstelle des Caritasverbandes für das Bistum Aachen.
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