„Pandemie-Maßnahmen haben entschleunigt“
Peter van Horrick leitete während der Corona-Pandemie im Jahr 2021 die Quarantäne-Gruppe in der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Schloss Dilborn in Brüggen.DiCV Aachen
REGION VIERSEN Eigentlich ist er Teamleiter von drei traumapädagogischen Intensivwohngruppen in der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Schloss Dilborn der ViaNobis - Die Jugendhilfe. Als die Corona-Pandemie beginnt, wird der 30-jährige Sozialpädagoge Peter van Horrick Leiter der Quarantäne-Gruppe der Einrichtung und damit einer der führenden Manager der Pandemie in der Einrichtung.
Herr van Horrick, wie gehen Kinder und Jugendliche mit einer Pandemie-Situation um? Eher locker, oder ist ihnen bewusst, dass es eine ernste Sache ist?
Peter van Horrick Als sich die Situation mit dem ersten Lockdown im Frühjahr zuspitzte, standen bei den Kindern und Jugendlichen ganz einfache Fragen im Vordergrund: Was ist, wenn wir nicht mehr in die Stadt dürfen, wenn wir nicht mehr zum Fußballverein können, wenn wir unsere Eltern nicht mehr treffen? Obwohl es große Einschränkungen für sie gab, haben sie bei den Kindern und Jugendlichen keine große Unruhe gebracht. Sie haben alle Maßnahmen, sei es die Maskenpflicht, seien es die Einschränkungen im Freizeitbereich oder bei Besuchskontakten, sehr gut mitgetragen. Das hätten wir anders erwartet.
Warum war das so?
van Horrick Wir haben darüber auch im Fachverband Traumapädagogik gesprochen. Und es gab da unter anderem eine Hypothese, die mir sehr plausibel erscheint. Die Pandemie-Maßnahmen haben entschleunigt. Entschleunigung hat eine stabilisierende Wirkung. Für uns ist Stabilisierung das A und O in der Arbeit mit unserer Klientel. Es war auf einmal viel mehr Zeit für Ruhe, für individuelles Arbeiten, auch mal für einen Spaziergang in den Wald, was ja bei den Kids normalerweise nicht so dran ist.
Im ersten Lockdown waren sofort die Schulen geschlossen. Danach hieß es von verschiedenen Seiten, das dürfe nie wieder passieren. Haben Sie gemerkt, dass es für die Kinder ungünstig war, dass die Schulen geschlossen waren?
van Horrick Es fehlten Elemente in der gewohnten Tagesstruktur. Das ist keine Frage. Zudem: Homeschooling und zu Hause die Aufgaben zu erledigen ist von der Qualität her nicht das Gleiche wie Präsenzunterricht in der Schule. Aber aus meiner Sicht waren diese Maßnahmen damals notwendig. Für uns stellte sich dann eher die Frage: Wie nutzen wir nun diese Zeit sinnvoll? Wie schaffen wir es, die Kinder zu motivieren, die Vorgaben der Schule umzusetzen? Haben wir ausreichend Laptops, genügen die Internet-Anschlüsse, wie gestalten wir Homeschooling? Da tauchten plötzlich Fragen auf, die in der Jugendhilfe für den Alltag bislang nicht so relevant waren. Zum Beispiel das Thema Digitalisierung. Unter diesem Blickwinkel muss ich sagen: Die Schulschließung hat für uns spannende, neue Felder aufgetan.
Wie hat die Einrichtung Homeschooling ganz praktisch organisiert?
van Horrick Das war altersspezifisch unterschiedlich. Für die Jugendlichen gab es von den Schulen Angebote, dass Aufgaben online zur Verfügung gestellt wurden. Die konnten individuell bearbeitet und wieder hochgeladen werden. Wir haben bei uns relativ schnell Internetzugänge verbessert und entsprechende Kommunikationstools zur Verfügung gestellt. Bei den jüngeren Kindern im Grundschulalter oder im Vorschul- und Kita-Alter haben wir es so gemacht, dass die Mitarbeiter mit den Kids quasi Schule gemacht haben. Sie haben im Gruppenverbund gelernt, und es war eigentlich so organisiert, wie es auch in der Schule ablaufen würde. So konnten wir schauen, auf welchem Wissensstand jedes Kind ist und was bearbeitet werden musste.
In Einrichtungen wie Schloss Dilborn leben die Kinder auf Zeit, weil sie aus unterschiedlichen Gründen nicht von ihrer Ursprungsfamilie betreut werden können. Dennoch versuchen diese Einrichtungen, den Kontakt zu den Familien zu halten. Wie ist das gelaufen?
van Horrick Das war in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung. Zum einen waren da die grundlegenden Kontaktbeschränkungen. Zum anderen lagen möglicherweise bei Personen in den Herkunftsfamilien Vorerkrankungen vor. Auch gab es sehr besorgte Eltern oder Vormünder, die gesagt haben: Bitte setzt die Treffen in dieser Situation lieber aus. Für uns stellte sich also die Frage, was wir tun können, wenn die Treffen aus einem der vorgenannten Gründe nicht stattfinden können. Wir haben Möglichkeiten entwickelt, damit die Kinder und Jugendlichen über entsprechende Kommunikationstools via Handy in den Austausch gehen konnten. Das war natürlich nicht die Ideallösung, aber immer noch besser als gar kein Kontakt. Wir müssen da systemisch denken. Eltern oder Verwandte haben für unsere Kinder eine große Bedeutung. Und da waren wir in der Verantwortung zu schauen, wie wir diese Kontakte gewährleisten. Unsere Verwaltung hat da sehr schnell auch die notwendige Technik zur Verfügung gestellt, das war gut. Brauchten entsprechende Anträge im Alltag oft ihre Zeit, ging das in dieser Ausnahmesituation sehr zügig, weil es einfach notwendig war.
Haben Sie erlebt, dass Kinder, die möglicherweise zu einer Risikogruppe gehören, im Laufe der Pandemie Ängste entwickelt haben?
van Horrick Das kam in Einzelfällen vor. Es waren dann aber oft Kinder, die ohnehin in der Quarantäne-Gruppe waren. Ich erinnere mich an ein Kind, dem im Zusammenhang mit Corona die Großmutter starb. Da kamen natürlich ganz viele Fragen auf. Sonst im Gruppenalltag spielten Ängste keine große Rolle, außer bei Verdachtsfällen. Das konnten wir aber durch viele Gespräche gut regeln.
Als nach den Sommerferien die Corona-Zahlen stiegen, war in manchen Medien davon die Rede, junge Leute seien nicht diszipliniert genug. Wie haben Sie das aus Ihrer Warte erlebt?
van Horrick Ich hätte mitbekommen müssen, wenn sich bei uns jemand an Quarantäneanweisungen nicht gehalten hätte, weil ich diese Gruppe geleitet habe und die Schnittstelle zum Gesundheitsamt und zum Ordnungsamt war. Mir ist ein Fall bekannt, dass ein Jugendlicher aus der Quarantäne entwichen ist. In einem anderen Fall sind vier Jugendliche in die Stadt gegangen, obwohl es untersagt war. In der Gesamtschau sind das Einzelfälle und insgesamt relativ wenige. Wir mussten also nicht groß hinterher sein, damit sich unsere 180 Kinder und Jugendlichen an die Corona-Regeln halten.
Sie haben in der Einrichtung die Quarantäne-Gruppe geleitet. War diese eine feste Gruppe, oder wurde diese nur gebildet, wenn es einen Quarantäne-Fall gab?
van Horrick Als die Pandemie begann, rief mich Guido Royé, der Leiter der Einrichtung, im März an und sagte, ich hätte ja Krisen-Erfahrung aus meiner Zeit bei der Bundeswehr, ich würde gebraucht. Da hatten wir ein Gespräch über die aktuelle Situation. Und wir kamen zu der Frage: Wie können wir aus dem Nichts eine Gruppe herausstampfen, die im Ernstfall positiv getestete Kinder und Jugendliche unserer Einrichtung versorgen kann? Hinzu kam folgender Glücksfall: Da wir über den Via Nobis-Verbund Kontakte zu unseren Gangelter Einrichtungen haben, auch zum dortigen Krankenhaus, kamen wir anders als manche Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe sehr schnell an Schutzmaterial heran, und wir konnten gut geschult werden, um bei uns eine solche Quarantäne-Gruppe einzurichten. Die Gruppe war im früheren Schwestern-Konvent, in dem einst die Nonnen lebten, untergebracht.
Und wie kamen Sie an die Mitarbeiter für die Gruppe?
van Horrick Wir konnten niemanden dazu verdonnern, dort zu arbeiten. Wir haben in der Mitarbeiterschaft eine Ausschreibung gemacht. Nach ein, zwei Tagen hatten wir schon 15 Mitarbeiter, die sich freiwillig für den Einsatz in dieser Gruppe gemeldet haben. Das fand ich richtig stark. Innerhalb von ein, zwei Wochen haben wir die Mitarbeitenden geschult, zum Beispiel in Hygiene. Dann haben wir einen Dienstplan für die Gruppe erstellt, mit dem wir gewährleisten konnten, dass wir rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche die Gruppe aufrechterhalten konnten.
Mussten Sie Infizierte in die Gruppe aufnehmen?
van Horrick Seit März bis Anfang Dezember haben wir in der Gruppe sechs Kinder und Jugendliche versorgt, die positiv auf das Corona-Virus getestet worden waren. Das waren Interne und Externe. Bei den externen Fällen waren auch solche Fälle dabei, in denen beide Eltern ins Krankenhaus mussten und an uns die Anfrage kam, ob wir das Kind aufnehmen könnten. Auch einen jugendlichen Flüchtling haben wir aufgenommen, ihm auch eine Anschlussmaßnahme angeboten.
Gab es positiv Getestete unter den Mitarbeitern?
van Horrick Ja, die hatten wir auch, aber nie im zweistelligen Bereich. Ich klopfe da einmal auf Holz. Wir hatten, was die Infektionen sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Mitarbeitern anging, bislang sehr viel Glück.
Können Sie ein Problem benennen, von dem Sie sagen würden, darauf wurde bereits seit geraumer Zeit immer wieder hingewiesen, es wurde aber nicht angegangen und es ist nun in der Pandemie deutlich zutage getreten?
van Horrick Da würde ich die Digitalisierung nennen. Da sind nun Dinge sehr schnell gegangen: Wir können Krise!
Info
Schloss Dilborn in Brüggen, eine Einrichtung der ViaNobis - Die Jugendhilfe, ist eine Kinder-und Jugendhilfeeinrichtung mit insgesamt 30 Gruppen, darunter auch intensiv- und traumapädagogische Gruppen, in denen verschiedene individuelle Störungsbilder bearbeitet werden können. Die Einrichtung hat rund 180 Plätze.