„Ich habe mir gedacht: Du lässt Dir etwas einfallen.“
Sabine Nießen im Konferenzraum des St. Josefshaus in Mönchengladbach. Im Hintergrund hängen Bilder aus der langen Geschichte des Hauses an der Wand mit dem Lebensmotto des heiligen Vinzenz von Paul "Liebe sei Tat". Er stiftete den Orden der Vinzentinerinnen, der Träger der Einrichtung ist.DiCV Aachen
REGION MÖNCHENGLADBACH Im Januar 2020 übernahm die 39-jährige Diplom-Sozialpädagogin Sabine Nießen die Leitung des St. Josefshauses in Mönchengladbach-Hardt in Trägerschaft der Vinzentinerinnen in Köln. Wenige Wochen später stand sie vor einer ihrer größten Herausforderungen: der Corona-Pandemie. Sie erzählt von ihrem Ärger über die Politik, von den positiven Auswirkungen eines Posts bei LinkedIn und warum sie ihren Job so mag.
Frau Nießen, wie gehen Menschen mit Behinderung mit einer Pandemie-Situation um?
Sabine Nießen Als im März der erste Lockdown kam, waren die ersten zwei, drei Wochen für unsere Bewohnerinnen und Bewohner ein bisschen wie Urlaub. Sie fanden es cool, nicht mehr so früh aufstehen zu müssen und den ganzen Tag zu Hause sein zu können. Danach aber wurde es schwierig, zum Beispiel für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung. Sie brauchen einen geregelten Tagesablauf, ihre sozialen Strukturen, ihre Netzwerke. Aber insgesamt wurde es schwieriger, weil Rituale wegfielen wie der Besuch bei Mama und Papa oder bei Verwandten. Da waren schon Höchstleistungen unserer Mitarbeiter gefordert.
Wie haben Sie den Menschen mit Behinderung erklärt, dass es da so einen blöden Virus gibt, der uns richtig Schwierigkeiten macht?
Nießen (lacht) Ja, genauso. Möglichst direkt und in einfacher Sprache. Es so herunterbrechen, als ob man einem zweijährigen Kind erklären muss, warum es jetzt ganz lange Hände waschen muss. Wir hatten ja auch die Situation, Wohnbereiche in Quarantäne zu schicken, weil es Verdachtsfälle gab. Da half nur die einfache, direkte Ansprache.
Hatten Sie Krankheitsfälle unter den Bewohnern und der Mitarbeiterschaft?
Nießen Toi, toi, toi, die hatten wir in der ersten Welle nicht. Ab Oktober haben wir ja unseren Bewohnern, den Mitarbeitern und den Besuchern Tests angeboten. Da kam es bei Bewohnern zu Nachweisen, aber sie waren immer symptomfrei. Und darunter waren auch solche, die so wenig Sozialkontakte hatten, dass wir uns gefragt haben: Wie haben die sich infiziert? Schwere Krankheitsverläufe oder gar Todesfälle haben wir zum Glück noch nicht gehabt.
Einrichtungen berichten, dass in der ersten Phase des Lockdowns die Bewohnerinnen und Bewohner in einer regelrechten Isolation lebten.
Nießen Wir haben wöchentlich entschieden, wie weit unsere internen Maßnahmen gehen. Was uns maßlos geärgert hat war, dass wir in den ersten vier Wochen des Lockdowns in den Allgemeinverfügungen und in der politischen Diskussion als Eingliederungshilfe nicht vorgekommen sind. Wir waren quasi gleichgestellt mit der Altenpflege. Wir haben aber eine andere Klientel zu versorgen.
Was ist da anders?
Nießen Wir haben eine aktivere Klientel, wir haben Menschen, die regelmäßig die Einrichtung selbstständig verlassen. Für diese Personen gibt es eben die Rituale, dass sie freitagmittags von ihren Eltern abgeholt und Sonntags wieder zurückgebracht werden. Wir haben Menschen, die sich nicht einfach so in ihrem Zimmer isolieren lassen. Das waren massive Herausforderungen, die mich extrem gestört haben. Und die Fragen, die ich daraufhin dem Gesundheitsamt gestellt habe, konnten mir nicht beantwortet werden.
Hat sich die Situation verbessert?
Nießen Nach vier bis fünf Wochen in der ersten Welle sind wir als Eingliederungshilfe plötzlich in der Überschrift einer Verfügung aufgetaucht. Die Probleme aber blieben: Wir mussten auf jeden Einzelfall schauen, weil man einen Menschen mit Behinderung nicht einfach so im Zimmer isolieren kann. Das ist eine freiheitseinschränkende Maßnahme. Ich kann nicht einfach Eltern eines dreieinhalbjährigen Mädchens, das in der letzten Lebensphase ist, den Besuch verwehren. Ich habe diesen Angehörigen natürlich ein Sonderbesuchsrecht eingeräumt. Die konnten jederzeit kommen und den ganzen Tag im Zimmer ihres Kindes verbringen. Und die nächste Hürde, die dann kam, war die Einrichtung unterschiedlicher Quarantäne-Bereiche. Vom Platz her habe ich nicht das Problem, aber ich hatte kein Personal. Wie viele Quarantäne-Bereiche muss ich denn einrichten? Denn minderjährige Menschen mit Behinderung dürfen nicht in eine Einrichtung mit erwachsenen Menschen mit Behinderung. Habe ich also ein Kind, das positiv getestet aus dem Krankenhaus zurückkommt, muss ich also einen Isolationsbereich für Minderjährige einrichten. Kommt einen Tag später ein Erwachsener positiv getestet ins Haus, muss ich einen weiteren Isolationsbereich für Erwachsene mit Behinderung einrichten.
Wird denn die Eingliederungshilfe mittlerweile mehr gesehen?
Nießen Jetzt tauchen wir netterweise in den Allgemeinverfügungen auch direkt auf. Es gibt nun auch eigene Allgemeinverfügungen für die Eingliederungshilfe, die sich teilweise von denen für die Altenhilfe unterscheiden.
Das Ergebnis vom Bohren dicker Bretter?
Nießen Wir vor Ort haben nicht die Möglichkeit, ein großes Rad zu drehen. Ich bin natürlich vor Ort immer wieder mit den Gesundheitsämtern und den WTG-Behörden in die Diskussion eingestiegen und habe immer wieder nach Lösungen oder wenigstens nach einer fachlichen Diskussion verlangt. Und die Möglichkeiten, die uns WTG-Behörden und Gesundheitsämter eröffnet haben, waren schon sehr gut. Die konnten sehr gut nachvollziehen, dass es nahezu unmöglich für uns ist, uns exakt an die Vorgaben für die Altenhilfe zu halten.
Wie haben Sie es geschafft, im ersten Lockdown die Bewohnerinnen und Bewohner bei Laune zu halten?
Nießen Zum einen durch den immensen Aufwand, den unser Personal betrieben hat. Es war und ist über alle Maßen engagiert. Es geht individuell auf die Bedürfnisse der Bewohner ein, lässt sich immer wieder neue Dinge einfallen, um keinen Lagerkoller aufkommen zu lassen. Zum anderen konnten wir Netzwerke aktivieren, die uns ohne die Pandemie so nicht zur Verfügung gestanden hätten. Ich habe zum Beispiel über die Social-Media-Plattform LinkedIn in der ersten Welle darüber berichtet, dass alle Besuche ausgesetzt seien und gerade das Haus, in dem unsere Kinder leben, derzeit keinen Kontakt zu den Eltern habe. In meinem Post habe ich MediaMarkt-Saturn verlinkt und gefragt, ob die nicht eine Möglichkeit hätten, uns B-Ware oder gebrauchte Tablets zur Verfügung zu stellen, damit per Video-Telefonie Kontakte aufgebaut werden könnten zu Eltern. Keine 24 Stunden später hatte ich Kontakt zur obersten Leitung von MediaMarkt-Saturn, die uns innerhalb von drei Tagen acht nagelneue I-Pads und Tablets zur Verfügung gestellt hat. Mit deren Subunternehmen, der Deutschen Technikberatung, haben sie uns schließlich noch eine Video-Plattform mit Terminbuchungssystem zur Verfügung gestellt, das uns wirklich über die schwere erste Welle gerettet hat.
Wie kamen Sie auf diese Idee?
Nießen Der Hinweis, diesen Post zu machen, kam von einem Vater aus einer Einrichtung, der mich verzweifelt anrief und sagte, sein Kind könne nicht sprechen, sein Kind habe so wenige Fähigkeiten: Wir machen uns solche Sorgen. Ich habe aufgelegt und mir gedacht: Du lässt dir etwas einfallen. Ich habe die Verzweiflung in der Stimme des Vaters gehört. Irgendwann bin ich als Sozialpädagogin einmal mit bestimmten Wertvorstellungen angetreten. Und dann habe ich diesen Post gemacht.
In der ersten Phase des Lockdowns gab es den Aufruf, für Pflegekräfte Kerzen ins Fenster zu stellen oder für sie zu klatschen. Ist dieser Beifall nicht recht schnell verklungen?
Nießen Klar, jetzt ist ja auch kalt draußen, da geht keiner mehr auf den Balkon.
Ärgert Sie das?
Nießen Ja, das hat mich von Anfang an geärgert. Es ist ganz nett, dass die Bevölkerung auf einmal wach wird und sagt: Da gibt es gerade einen Berufszweig, der über alle Maßen gefordert ist. Mir war aber relativ zügig klar, dass nach zwei, drei Wochen keiner mehr klatscht. Dass wir einen Fachkräftemangel und zu wenig Personal haben, ist nicht erst seit März 2020 bekannt.
Hat die Pandemie nicht auch Probleme zutage gefördert, die wir seit Jahren kennen, an die wir aber nicht rangehen?
Nießen Klar. Das Problem nicht nur der Altenhilfe und Pflege, sondern unserer gesamten Branche ist: Wir finden kaum geeignetes und vor allem belastbares Fachpersonal, geschweige denn geeignete junge Leute, die die Ausbildung bei uns machen möchten.
Woran liegt das?
Nießen Es liegt an mangelnder Wertschätzung. Es wird einfach davon ausgegangen, dass dieser soziale Sektor irgendwie läuft. Und wir gehören nicht zur freien Wirtschaft. Und wir befinden uns auch in einem Politikum. Unsere Politiker möchten in den nächsten Monaten gewählt werden. Aber für die Politik ist es doch völlig uninteressant, ob ihn ein Mensch aus einer Einrichtung der Eingliederungshilfe wählt. Die Wählerstimmen mit Macht sitzen im Pflegeheim, und sie haben dort Angehörige. Eingliederungshilfe ist irrelevant für die Politik. Wir bringen auch keinen Profit. Wir kosten nur Geld. Der Landschaftsverband Rheinland diskutiert mit uns, was ihm die Betreuung unserer Menschen mit Behinderung wert ist.
Ist es nicht an der Zeit, als Eingliederungshilfe lauter zu werden?
Nießen Ich kenne Angehörige von unseren Bewohnerinnen und Bewohnern, die Herrn Minister Laumann Briefe schreiben, die nicht beantwortet werden. Viele fühlen sich berufen, Briefe zu schreiben, die Stimme für uns zu erheben. Aber es hat keine Auswirkung, es ist egal. Wir machen ja unseren Job.
Was macht Ihnen dennoch Freude an diesem Job?
Nießen Alles. Am Ende sind es diese unheimlich positiven Begegnungen mit den Menschen: mit Menschen mit Behinderung, mit deren Angehörigen, mit Mitarbeitern, die man wachsen sieht, die mit unseren Menschen mit Behinderungen gemeinsam Fähigkeiten entwickeln. Das ist genau das, warum ich in diesen Job eingetreten bin.
Info
Das St. Josefshaus in Mönchengladbach-Hardt in Trägerschaft der Vinzentinerinnen in Köln ist eine Einrichtung der Eingliederungshilfe für Menschen mit vorwiegend geistigen Behinderungen. Sie bietet von Geburt an Wohnung für Menschen mit Behinderung an. Die Einrichtung verfügt über ein Kinderhaus, dessen jüngste Bewohnerin dreieinhalb Jahre alt ist. Darüber hinaus hat das St. Josefshaus Wohneinrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung, deren älteste Bewohnerin knapp älter als 80 Jahre ist. Im stationären Bereich betreut das St. Josefshaus rund 220 Menschen, im Betreuten Wohnen rund 60 Personen. Das St. Josefshaus beschäftigt in der reinen Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner rund 300 Mitarbeiter.