„Hier geschieht etwas, das einzigartig ist“
Eine Situation wie die Corona-Pandemie könne man nur mit einem guten Team managen, sagt Gottfried Küppers, Vorstand des Caritasverbandes für die Region Heinsberg.RCV Heinsberg
REGION HEINSBERG Eine Karnevalssitzung in der Gemeinde Gangelt wurde im Frühjahr 2020 zum Superspreading-Event für das Coronavirus, das den Kreis Heinsberg zum Corona-Hotspot werden ließ und ihn frühzeitig in den Lockdown zwang. Wie konnte die Caritas unter diesen Umständen ihre Angebote aufrechterhalten?
Herr Küppers, der Kreis Heinsberg ist nach Karneval 2020 bundesweit bekannt geworden als Corona-Hotspot. Zu welchem Zeitpunkt war Ihnen klar, dass der Kreis und damit auch die Caritas vor einer großen Herausforderung stehen?
Gottfried Küppers Am Abend des Veilchendienstag, also am 25. Februar 2020, hieß es bereits, im Kreis Heinsberg ist dieses schlimme Corona-Virus unterwegs. Da war aber allen noch nicht bewusst, welche Auswirkungen das möglicherweise haben würde, obwohl dann bereits am 26. Februar die Schulen im Kreis Heinsberg geschlossen wurden und auch Einrichtungen wie der offene Ganztag oder die Tagesgruppen, die an den Schulen angegliedert sind. Auch unsere Integrationshelfer, also alle, die irgendwie mit Schule zu tun hatten, waren im Lockdown. Richtig bewusst wurde es mir am 3. März. Da gab es im Sitzungssaal des Kreises ein Krisengespräch des Landrates und der Kreisverwaltung mit allen Anbietern stationärer, teilstationärer und ambulanter Dienste, bei dem gesagt wurde, was nun in diesen Einrichtungen passiert. Da war mit klar: Hier geschieht etwas, das einzigartig ist.
Gab es einen Punkt, wo Ihnen - verzeihen Sie diese saloppe Formulierung - das Herz in die Hose gerutscht ist?
Küppers Ja, das war, als bekannt wurde, dass Gangelt der Corona-Hotspot im Kreis ist und diese Gemeinde durch unsere Caritas-Pflegestation in Geilenkirchen versorgt wird. Und wir waren sehr schnell in der Situation, dass unter unseren Patientinnen und Patienten und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Personen waren, die positiv getestet wurden. Und da musste zügig eine Entscheidung her: Wie versorgen wir unsere Patientinnen und Patienten? Können oder dürfen wir das überhaupt noch? In welche Gefahr bringen wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jetzt im Gangelter Beritt im Dienst sind? Da ist mir und uns allen, ich sage das jetzt einmal so lapidar, etwas die Düse gegangen. Die Frage, die uns beschäftigte, lautete: Können wir das verantworten gegenüber Patientinnen und Patienten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? Müssen wir die ambulante Pflege einstellen?
Wie geht man mit einer solchen Situation als Leitung eines Verbandes um?
Küppers Alleine geht das gar nicht. Wichtig ist in einer solchen Situation, dass man ein Team um sich hat, das besonnen und vernünftig überlegt, wie es jetzt an der Stelle weitergehen kann? Für mich waren vor allem, was die Situation der Pflege in Gangelt betraf, die Geschäftsleitung sowie die leitenden Mitarbeiterinnen in der Pflegestation in Geilenkirchen wichtig. Die sagten: Wir versuchen, unser Angebot aufrechtzuerhalten. Wir versuchen, uns bestmöglich zu schützen. Wir wollen im Sinne unserer Patienten und unserer Mitarbeitenden handeln. Die waren sehr klar, mutig und optimistisch, dass wir das hinkriegen. Da habe ich gespürt: Ja, das bekommen wir geregelt. Das war unschätzbar wichtig und beruhigend. Ich glaube, dass es auch damit zusammenhing, dass unter dem Personal der Pflegestation gestandene Krankenschwestern sind. Die haben schon einiges erlebt, die gehen mit diesen Situationen sehr professionell und pragmatisch um.
Wie waren Sie als Caritas in das Krisenmanagement des Kreises eingebunden? Fühlten Sie sich immer gut mitgenommen?
Küppers Der Kreis Heinsberg hat aus meiner Sicht die Situation grundsätzlich sehr gut und sehr professionell geregelt. Klar ist aber in einer solchen Lage auch: Innerhalb von wenigen Tagen unter diesen besonderen Umständen alle Bereiche im Blick zu haben, ist unmöglich. Ich beneide niemanden, der da zu entscheiden hatte. Die Stellen des Kreises haben sich zunächst auf die Gesundheitshilfe, also die Krankenhäuser, und die stationäre Altenhilfe konzentriert. In der ambulanten Pflege sind wir die ersten Tage da schon ein wenig hin- und hergeschwommen. Im Kreis werden tausende Menschen ambulant gepflegt. Wer sagt uns, was zu tun ist? Die Jugendhilfe kam auch erst später beim Krisenstab auf den Schirm. Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, dass der Kreis von Anfang an die Fachlichkeit der Wohlfahrtsverbände mit einbezogen hätte bei den Entscheidungen. Im zweiten Lockdown merken wir, dass es viel besser und durchgängiger gehandhabt wird.
Sie sind irgendwann selber positiv auf das Coronavirus getestet worden.
Küppers Am 5. März bin ich positiv getestet worden und war auch dann sofort aus der Ziehung. Zwei Wochen lang war ich nicht ansprechbar und auch nicht in der Lage zu kommunizieren. Nach zwei Wochen gab es dann wieder die ersten Kontakte aus dem Krankenhaus in den Verband zu meiner Vorstandskollegin Marion Peters. Ich beneide die Kolleginnen und Kollegen, die in meiner Abwesenheit den Betrieb aufrechterhalten haben, nicht. Das war schwierig genug.
Was war denn in dieser Situation besonders wichtig, um den Verband zusammenzuhalten?
Küppers Es war die Präsenz von Leitung, die hat viel dazu beigetragen, dass unsere Mitarbeiter sich auch weiter mit dem Verband identifiziert haben. Meine Vorstandskollegin Marion Peters und mein Kollege Hermann-Josef Ronkartz sind unmittelbar, nachdem ich erkrankt war, ins Homeoffice gegangen, weil sie auch zu Risikogruppen gehören und natürlich auch aus reiner Vorsichtsmaßnahme, da wir alle eng zusammenarbeiten und tagtäglich viel Kontakt hatten. Aber danach waren wir alle durchgängig hier. Es gab kein Homeoffice. Wir haben uns gesagt: Wir können unseren Mitarbeitenden, die zu 95 Prozent in der Betreuung mit den Menschen vor Ort stehen, nicht vermitteln, dass wir uns als Leitung ins Homeoffice setzen, wir müssen präsent sein. Und diese Präsenz, die Kommunikation, der enge Austausch haben uns in die Lage versetzt, die Situation bis jetzt gut zu überstehen. Und natürlich der gesamte Zusammenhalt im Verband, jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter hat dazu beigetragen. Ein wesentlicher Erfolg liegt aber auch in der Entscheidung begründet, dass seit dem Sommer unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchweg FFP2-Masken tragen und diese auch zur Verfügung stehen für alle, die in unseren Einrichtungen beraten werden.
Haben Sie aus der Zeit Ihrer Erkrankung eine Erkenntnis mitgenommen?
Küppers Für mich persönlich hat sich gezeigt, wie schnell eine Situation eintreten kann, die einen Verband vor eine riesige Herausforderung stellt, die auch an die Grundsätze des Verbandes herangeht. Das hätte ich nicht gedacht. Dass Mitarbeiter schwer erkranken und es trotzdem Kolleginnen und Kollegen gibt, die vor Ort ihren Mann und ihre Frau stehen, das hat mich sehr beeindruckt. Das hat mir auch noch einmal gezeigt, dass wir eine tolle Leitung und Mitarbeiterschaft haben, die hoch engagiert ist. Das wird einem in so einer Situation noch einmal richtig bewusst. Ich bin riesig stolz auf den Verband. Wobei man fairerweise sagen muss: Wir sind jetzt bereits ein Dreivierteljahr im Ausnahmezustand. Im zweiten Lockdown merkt man, dass Mitarbeitende an ihre Grenzen kommen, dass sie nicht mehr können. Das Aufrappeln aus der ersten Phase ist jetzt anders, wir alle sind erschöpft.
Und Sie persönlich? Gibt es positives am Lockdown, was vermissen Sie?
Küppers Neben der täglichen Arbeit auch das Miteinander zu pflegen, kommt zu kurz. Es wird immer schwieriger, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Laune zu halten. Aber da ist - ich sagte es schon - Leitung gefordert. Tatsächlich bringt so ein Ausnahmezustand aber auch einiges Positives zum Vorschein. Ein Beispiel: Von 100 Abendterminen haben vielleicht noch fünf stattgefunden. Dieses Runterfahren war angenehm, das habe ich von vielen erfahren. Das Mehr an Ruhe der vergangenen Monate im privaten Bereich war enorm. Ich habe wenig vermisst. Jetzt im zweiten Lockdown sage ich: Du bist jetzt erholt, jetzt würdest du dich gerne noch einmal mit Freunden, Familie treffen. Ich habe Freunde, die ich seit Wochen, Monaten nicht mehr gesehen habe, und das vermisse ich schon. Aber die Situation ist so, wie sie ist, es geht nicht anders.
Stellen Sie fest, dass im Lockdown seit geraumer Zeit ungelöste soziale Probleme verstärkt zutage getreten sind?
Küppers Ich sehe eher neue Nöte auf uns zukommen, wenn wir denn endlich die Phase überstanden haben, sodass man sagen kann, es kehrt wieder ein Stück Normalität ein. Ich denke an Betriebe und Firmen, zum Beispiel aus dem Gastronomiegewerbe, aus kleineren Unternehmen, die den zweiten Lockdown nicht überstehen werden. Da sehe ich Einzelfallschicksale auf uns zukommen, weil es für die Familie nicht mehr reicht. Ich denke an Menschen, die im täglichen Leben Probleme bekommen, die sich aus der Kurzarbeit nicht erholen können. Zurzeit höre ich sehr wenig davon, dass Familien Opfer von Corona geworden sind und nun dringend finanzielle Hilfe benötigen. Aber ich rechne ganz stark damit, dass uns diese Fälle mit dem Frühling und dem Sommer erreichen werden, weil dann feststeht, es reicht aus finanzieller Sicht nicht mehr. Auch das Thema Einsamkeit trat durch die Pandemie noch einmal verstärkt in den Vordergrund. Wir haben zeitnah dafür ein neues Angebot ins Leben gerufen, das Caritas-Telefon. Wenn es ein Problem gibt, das zutage getreten ist, aber durch die Pandemie auch einen enormen Schub bekommen hat, dann ist es die Digitalisierung. Die hat natürlich enorm an Fahrt aufgenommen, ich denke nur an das Feld der Online-Beratung. Ich glaube: Ohne die Pandemie hätte diese Entwicklung noch zwei Jahre gedauert.
Info
Der Caritasverband für die Region Heinsberg beschäftigt rund 1140 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Seit 2018 ist Gottfried Küppers hauptamtlicher Vorstand und Sprecher des Vorstandes. Seit 2003 war Küppers, der seit 1991 für den Verband tätig ist, Geschäftsführer des Verbandes.