„Ohne Gutmenschen wäre es eine Katastrophe“
Gemeindesozialarbeiterin Gisel Gerdes ist froh, dass sich beim regionalen Caritasverband im Kreis Düren viele Menschen in Corona-Zeiten ehrenamtlich engagierenRCV Düren-Jülich
REGION DÜREN Die Diplom-Sozialpädagogin Gisela Gerdes ist Gemeindesozialarbeiterin beim Caritasverband für die Region Düren-Jülich für den Südteil des Kreises Düren. Sechs ländlich strukturierte Städte und Gemeinden in der Eifel gehören dazu. In diesem Gebiet koordiniert die 56-Jährige auch das ehrenamtliche Engagement vieler Bürger.
Frau Gerdes, stellen Sie sich vor, eine Corona-Pandemie ohne ehrenamtliches Engagement bewältigen zu wollen. Wie wäre das?
Gisela Gerdes Das wäre gar nicht möglich. Besonders in Krisenzeiten ist die Hilfe von Ehrenamtlichen sehr gefragt. Das war so, als 2015 die Flüchtlinge den Gemeinden zugewiesen wurden, und das ist auch jetzt während der Corona-Pandemie so. Zu Beginn der Pandemie sind besonders die Kommunen, mit denen wir auch 2015 eng zusammengearbeitet haben, ganz schnell wieder auf uns, den regionalen Caritasverband, zugekommen und haben um Unterstützung gebeten, insbesondere bei der Versorgung von Menschen, die in ihrer häuslichen Umgebung in Quarantäne sind. Erst kürzlich erhielten wir eine Bitte um Unterstützung von einer Gemeinde, auf deren Gebiet eine Flüchtlingsunterkunft mit 40 Personen ist, die das Kreisgesundheitsamt unter Quarantäne gestellt hatte, weil die Gemeindemitarbeiter nicht für 40 Personen einkaufen gehen konnten. Wir haben dann geschaut, wer ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit aktiv und bereit ist, die Menschen zu versorgen. Wir haben das schließlich in enger Abstimmung mit der Kommune geregelt: Die betroffenen Geflüchteten haben dreimal pro Woche Einkaufslisten geschrieben. Die Security, die in dem Flüchtlingsheim die Quarantäne überwachte, hat die Listen zur Gemeinde mitgenommen. Die Gemeinde hat Ehrenamtliche mit Geld ausgestattet, die die Einkäufe erledigt und zur Gemeinde zurückgebracht haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeinde haben die Sachen entsprechend der Listen in Einkaufstaschen sortiert, und der Ehrenamtskoordinator der Caritas für Freiwillige in der Geflüchtetenarbeit vor Ort hat die Einkäufe anschließend in die Unterkunft gebracht. So eine Aktion funktioniert nur, wenn viele mitmachen, gerade auch freiwillige Helferinnen und Helfer.
Wenn Sie auf die beiden Phasen des Lockdowns schauen, was ist das Notwendigste, bei dem Ehrenamtliche helfen können oder gar müssen?
Gerdes Mit Sicherheit bei diesen Einkaufsdiensten, die ich eben beschrieben habe, und bei Telefondiensten. Wir haben ja in den Dörfern sehr viele Seniorencafés, die aufgrund der Pandemie ausfallen. Und die Ehrenamtlichen halten nun die Kontakte zu den alten Menschen. Jüngst habe ich noch mit 15 ehrenamtlich tätigen Frauen gesprochen, die sich in dieser Weise engagieren, um zu hören, was sie tun, um den Kontakt zu den Senioren aufrechtzuerhalten. Das geht von Telefonketten über Besuche bei einzelnen Personen zum Spaziergengehen, Briefe schreiben, Essen vorbeibringen bis hin zu einer kleinen Geste, indem man Plätzchen vorbeibringt. Ich habe eine ganze Liste erstellt mit Dingen, die diese Ehrenamtlichen tun, um Kontakte aufrechtzuerhalten. Sie wollen den alten Menschen vermitteln: Wir denken an euch, wir kümmern uns um euch, ihr seid nicht aus der Welt. Für die Senioren in einem Dorf ist diese Pandemie eine ganz schwierige Sache. Sie haben ohnehin wenig Kontakte. Sie freuen sich über kleine Aktionen im Dorf, die Begegnungsmöglichkeiten bieten, wie beispielsweise Dorfflohmärkte, Garagentrödelmärkte oder ein monatlich stattfindendes Reibekuchenessen, das in dem Dorf organisiert wird, in dem ich selbst lebe. Da kann man hingehen und andere Menschen treffen, aber das geht zurzeit leider auch nicht. Das führt zu ganz großer Vereinsamung. Wir hatten im Kreis Düren eine Zeitlang eine Ausgangsbeschränkung von 21 Uhr bis fünf Uhr morgens. Das machte den Leuten Angst, und die älteren Menschen gingen dann auch tagsüber nicht mehr auf die Straße. Gegen diese Vereinsamung helfen beispielsweise Telefonketten. Ehrenamtliche rufen die Seniorinnen und Senioren an, verabreden sich mit ihnen, stellen sich zwei Meter vor dem Haus in den Garten und erzählen.
Läuft solch ehrenamtliches Engagement relativ selbstständig, oder müssen Sie viel koordinieren?
Gerdes Das ist unterschiedlich. Es gibt Menschen, die im Ort Verwandte und Freunde haben, und da läuft das sehr selbstständig. Dann gibt es auch Personen, die niemanden haben. Die melden sich dann bei unserer Corona-Hotline, die wir eingerichtet haben. Ich habe nach Dörfern sortierte Tabellen mit Ehrenamtlern, die sich beim Caritasverband gemeldet haben, um ihre Hilfe anzubieten. Ich schaue dann, wer wohnt in der Nähe des Anrufers oder der Anruferin und kann diese Person betreuen. Viele der Menschen, die anrufen, sind sehr einsam, und ich muss ihnen deutlich machen, dass es sich bei der Corona-Nachbarschaftshilfe nur um eine vorübergehende Hilfe handelt. Denn die Ehrenamtlichen haben jetzt Zeit, weil sie zum Beispiel Kurzarbeit haben und weil viele auch mit ihren Kindern zu Hause sind. Aber das wird nicht dauerhaft so bleiben. Wenn sie wieder arbeiten gehen, wenn Schule und Kita wieder geöffnet sind, sieht das anders aus. Aber es ist mit Sicherheit so, dass sich die eine oder andere Bekanntschaft daraus entwickeln wird.
Was Sie eben berichtet haben, zeigt doch, dass es Einsamkeit gibt, gegen die man auch unabhängig von solchen Ausnahmesituationen wie in einer Pandemie etwas tun müsste.
Gerdes Im Kreis Düren haben wir vor Jahren ein Projekt "Teilhabe im Alter" durchgeführt. Damals haben wir eine Umfrage gemacht und festgestellt, dass viele Seniorinnen und Senioren unter Einsamkeit und Armut leiden. Wir haben daraufhin damit begonnen, als niedrigschwelliges Angebot monatlich kreisweit Seniorenfrühstückstreffen für die Menschen vor Ort anzubieten, in denen sich Menschen treffen können und Informationen erhalten zu Aktivitäten, die in Düren angeboten werden, und über Themen, die für Senioren relevant sind, wie beispielsweise Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht. Das Projekt "Teilhabe im Alter" wurde vom Kreis Düren fortgeführt, und heute gibt es in Kreis und Stadt Düren rund 14 solcher Frühstückstreffen, die dabei helfen können, dass Menschen aus der Einsamkeit herauskommen. Aber es gibt auch Menschen, die wollen das nicht. Ich vermittle auch häufig, wenn mir Menschen am Telefon ihre Probleme berichten, an andere Stellen, die Unterstützung und Hilfe anbieten, wie unsere Pflegestation oder an Beratungsstellen.
Das bedeutet, dass Sie als Gemeindesozialarbeiterin auch für manch einsame Person so eine Art Lotsin sind?
Gerdes Ja, und diese Aufgabe ist ganz wichtig, damit ich auch an Stellen verweisen kann, wo hauptberuflich Tätige helfen. Denn es wird von Ehrenamtlern viel erwartet; auch vieles, was nicht ihre Aufgabe ist. Ich schaue immer sehr genau hin, ob das eine Aufgabe für Ehrenamtliche ist oder ob hauptamtliche Unterstützung erforderlich ist. Zum Beispiel der Umgang mit demenziell veränderten Menschen ist wirklich nicht einfach. Zur Unterstützung dieser Menschen und ihrer Angehörigen gibt es speziell geschultes Personal, das unterstützende und entlastende Angebote machen kann.
Die Caritas im Kreis Düren hat, wie viele andere Verbände auch, zu Beginn des ersten Lockdowns einerseits um ehrenamtliche Helfer geworben, andererseits auch Personen, die Hilfe benötigen, gebeten, sich zu melden. Wie waren da Ihre Erfahrungen?
Gerdes Für die praktische Unterstützung haben wir für Stadt und Kreis Düren eine telefonische Hotline "Die Corona-Nachbarschaftshilfe" von Montag bis Freitag am Vormittag angeboten, an die sich Menschen, die Hilfe brauchen oder leisten möchten, wenden konnten. Meine beiden Kolleginnen und ich nehmen alle Anrufe entgegen, treten hier aber in Ergänzung und nicht in Konkurrenz zu bereits bestehenden und funktionierenden Hilfen und kooperieren lokal vor Ort. Manche Kommunen haben eine eigene vergleichbare Hotline eingerichtet, zum Beispiel die Stadt Nideggen. Wenn Menschen aus Nideggen anrufen verweise ich sie deshalb auf die Hotline der Stadt Nideggen. Zusätzlich zur "Corona-Nachbarschaftshilfe" bietet der Caritasverband ein Krisentelefon an. Hierhin können sich Menschen mit all ihren Sorgen und Nöten in der Woche und auch an Feiertagen wenden. Das Telefon bedienen hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Caritasverbandes. Wenn man Nachbarschaftshilfe anbietet, ist es immer sehr wichtig, bei den beteiligten Personen nachzufragen, wie die Kontakte verlaufen sind. Denn ich habe Einzelfälle erlebt, dass Senioren ihre professionelle Hilfe, die sie hatten, abbestellt haben mit der Begründung, das bekämen sie jetzt kostenlos von der Caritas. Weil professionelle Hilfsdienste das nicht leisten konnten, nahmen sie freiwillige Helferinnen und Helfer in Anspruch und schickten sie zu zehn bis 15 Stellen am Tag, um dort einzukaufen. So etwas geht natürlich nicht. Da muss ich auch das Ehrenamt schützen. Das waren aber zum Glück nur Einzelfälle. Denn ganz überwiegend haben wir positive Erfahrungen gemacht.
Wie groß war denn das Interesse von Ehrenamtlern, sich zu engagieren?
Gerdes Auf die Aufrufe, sich zu engagieren, haben sich im Südkreis rund 50 Ehrenamtler gemeldet. Die waren im Alter von 18 bis 60 Jahren. Im gesamten Kreis waren es sicher 100 Menschen. Und wenn wir dann noch die mitrechnen, die sich bei den Kommunen für ehrenamtliches Engagement gemeldet haben, dann war das eine große Zahl.
Wie sehen Sie das: Ist der Zusammenhalt in der Gesellschaft in einem ländlich strukturierten Gebiet wie dem Südteil des Kreises Düren noch intakt?
Gerdes Der ist intakt. Wir haben im Caritasverband überlegt, ob es erforderlich ist, Menschen, die alleine zu Hause leben, über Videotelefonie oder Ähnliches Kontakt zu Angehörigen zu ermöglichen. Daraufhin habe ich unsere Ehrenamtlichen gefragt, ob dafür Bedarf besteht. Die Befragten haben mir mitgeteilt, dass dies nicht notwendig ist, weil die älteren Menschen meist Angehörige in erreichbarer Nähe haben und zu weit entfernten Verwandten meist gar kein Kontakt besteht. Die Menschen auf den Dörfern sind gut vernetzt. Orte, an denen man seine Freizeit verbringen kann, wie Cafés, Restaurants, Freizeitparks etc. sind wegen der Pandemie geschlossen oder eingeschränkt nutzbar. Deshalb hat man mehr Zeit, bei anderen vorbeizuschauen oder einmal klingeln zu gehen oder anzurufen. Oder man bleibt auf der Straße schon einmal stehen und unterhält sich. Das war in Zeiten vor der Pandemie nicht so.
Haben die Einschränkungen infolge der Pandemie auch gute Seiten?
Gerdes Ich finde, die Pandemie hat dazu geführt, dass die Menschen näher zusammenrücken. Die meisten Leute hier auf dem Land haben zu lange Fahrzeiten zur Arbeit, und wenn sie abends nach Hause kommen, sind sie müde. Das Homeoffice ist aus meiner Sicht eine Möglichkeit, den Zusammenhalt langfristig zu fördern. Die Menschen haben weniger Fahrzeit. Sie haben überhaupt mehr Zeit zur Verfügung. Sie gehen zwischendurch spazieren, man trifft sie mehr. Ohne Homeoffice sind die Dörfer hier ziemlich ausgestorben. Seit es Homeoffice gibt, ist hier mehr los. Wenn man ins Gespräch kommt, berichten viele Leute, die im Homeoffice sind: "Ja, ich habe mehr Zeit für mich, aber auch für andere. Ich kann mehr telefonieren, Kontakte knüpfen oder wieder aktivieren, die ich sonst aus zeitlichen Gründen gar nicht aufrechterhalten kann."
Sind Ehrenamtler in Zeiten der Pandemie auch für die Caritas oder für die Kommunen so etwas wie Kundschafter, die Notsituationen erkennen?
Gerdes Mich rufen auch Ehrenamtliche an, die sagen: "Die Frau Soundso hat so wenig Geld, dass sie sich kein Holz für den Winter leisten kann. Können Sie bitte einmal nach ihr sehen." Bei der Caritas haben wir für Menschen in Not eine Beratungsstelle. Dann stelle ich einen Kontakt her. Oder es gibt soziale Initiativen, bei den man für solche Personen eine einmalige Beihilfe beantragen kann. Darum kümmere ich mich dann. Oder vor Weihnachten rief mich ein Mann an, der sagte: "Ich möchte Ihnen Geld spenden, damit Sie es für Familien in Not einsetzen." Es gibt jetzt in Zeiten der Not viele Menschen, die hier vor Ort an andere denken.
Also erleben Sie auch ganz viel Engagement in der Pandemie.
Gerdes Ja, und vor allem auch von Seiten, von denen es niemand erwartet hat. Im ersten Lockdown kamen zwei geflüchtete Frauen auf mich zu. Sie hatten in der Zeitung gelesen, dass wir Ehrenamtliche suchen, die sich in der Corona-Pandemie engagieren. Sie erzählten mir, sie würden andere Flüchtlingsfrauen kennen, mit denen sie gemeinsam Alltagsmasken nähen wollten. Ihr Deutschkurs fand zu der Zeit nicht statt, sie hatten Zeit, sie wollten etwas tun. Das fand ich toll. Sie haben mehr als 3000 Alltagsmasken genäht, die ich dann wiederum an solche Menschen verteilen konnte, die damals in der Zeit der Maskenknappheit nicht so schnell an Masken herankamen.
Die Pandemie begann in Deutschland in dem Jahr, in dem die Caritas die Jahreskampagne "Sei gut, Mensch!" hatte. Diese Kampagne spielte ja mit dem Begriff des Gutmenschen, der ja von bestimmten Kreisen diffamierend gemeint ist. Die Caritas meint aber, ohne Gutmenschen ist Zusammenhalt nicht zu machen. Wo ständen wir heute ohne diese Gutmenschen?
Gerdes Ohne Gutmenschen wäre es eine Katastrophe. Wir können froh sein, dass wir so viele Menschen haben, die sich nicht nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigen, sondern die sich auch Gedanken darüber machen, wie es anderen geht. Und ich kann aus meinen Erfahrungen sagen: Alle, die sich engagiert haben, haben gewonnen. Sie haben Kontakte bekommen. Es gibt dieses schöne Sprichwort: "Wenn es Dir selbst schlecht geht, tue anderen etwas Gutes." Und das ist so. Ehrenamtlich engagierte Menschen freuen sich, dass sie etwas ausrichten können, dass sie anderen helfen können und die Freude derjenigen sehen, denen sie helfen. Das gibt den Ehrenamtlichen sehr viel Bestätigung im Leben. Ich bin der Überzeugung, dass alle, die sich engagieren, es nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst tun.
Info
Der Südkreis Düren, für den Gisela Gerdes beim regionalen Caritasverband im Kreis Düren als Gemeindesozialarbeiterin tätig ist, umfasst die Kommunen Heimbach, Hürtgenwald, Nideggen, Nörvenich, Kreuzau und Vettweiß. In diesen Kommunen leben nach Angaben des Kreises Düren (Stand 31.12.2018) rund 60200 Menschen. Allein bei der Caritas engagieren sich hier längerfristig rund 100 Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich, viele weitere auf Zeit. Die Gemeindesozialarbeit des regionalen Caritasverbandes arbeitet lebensraumorientiert: Das bedeutet, sie schaut, was es in den Dörfern gibt, was fehlt und wo etwas getan werden müsste.
Gisela Gerdes ist beim Caritasverband Düren-Jülich unter der Telefonnummer 02421-48112 oder per Mail unter ggerdes@caritas-dn.de zu erreichen.