„Diese Solidarität ist eine große Stütze“
Das Caritas-Haus in Schleiden liegt in einer Senke. Das Foto entstand am Mittwoch, 14. Juli 2021, gegen 21 Uhr, nachdem Mitarbeiter das Haus fluchtartig verlassen hatten. Der Pegel stieg danach noch um 1,50 Meter an.RCV Eifel
Herr Schneider, Mitte Juli haben in Teilen ihres Verbandsgebietes Unwetter gewütet und verheerende Auswirkungen hinterlassen. Wie ging es den Menschen unmittelbar nach der Überschwemmungskatastrophe?
Rolf Schneider Vielen wurde etwa erst zwei Wochen nach den Überschwemmungen langsam klar, was geschehen ist. Das gilt für alle hier in der Region, auch für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es gab die unterschiedlichsten Hilfsangebote. Viele Menschen orientierten sich und schauten, woher sie Hilfe bekommen. Von unseren rund 480 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren 70 Personen betroffen. Bei ihnen herrschte eine tiefe Trauer und zugleich ein tiefes Mitgefühl mit denjenigen, die es noch härter getroffen hatte, denen es noch schlechter ging. Und ich habe viel Empathie erlebt. Immer wieder kamen Mitarbeiter zu mir, die berichteten: Diesem Kollegen oder dieser Kollegin ist das Haus weggeschwommen, können wir da nichts tun? Es gab also eine sehr große Solidarität, aber zugleich auch immer die Angst, wenn ein nächster Starkregen angekündigt wurde. Es war eine sehr ambivalente Situation. Die Stimmung wechselte immer zwischen: So, jetzt packen wir an, wir helfen und einer tiefen Trauer über die enorme Zerstörung, die es gab und gibt, und die Opfer, die wir zu beklagen haben. Da haben sich ja regelrechte Tragödien abgespielt.
Was hat das mit den Menschen in der Region gemacht, wenn sie von den Schicksalen hörten?
Schneider Das ist belastend. Denn solche Nachrichten treffen auf die eigene Trauer, auch wenn es nur um die Trauer darüber geht, dass die eigene Wohnung nicht mehr bewohnbar ist, man selber aber mit dem Leben davongekommen ist. Wenn es um Todesnachrichten geht ist es naturgemäß so, dass solche Schicksale relativ weit weg sind, wenn ich diejenige Person nicht kenne. Dann bin ich in einer solchen Situation stark mit dem eigenen Schicksal beschäftigt. Aber hier in der Eifel da kennen sich viele. Da lösen Todesnachrichten, vor allem vor dem Hintergrund dieser Katastrophe, die jeden noch viel härter hätte treffen können, eine große Betroffenheit aus.
Das Caritas-Zentrum in Kall, in dem unter anderem eine Sozialstation und die Schuldnerberatung untergebracht waren, ist völlig zerstört. Vor dem Haus klaffte im Bürgersteig ein großes Loch.Andreas Steindl-Bistum Aachen
Der Caritasverband für die Region Eifel ist sehr stark in der ambulanten Altenpflege tätig. Da wird so ein Unwetter für die zu Pflegenden manches in Unordnung gebracht haben.
Schneider Was unsere Kunden, die wir in der Altenpflege haben, betrifft, war es zunächst das reinste Chaos. Noch Tage nach dem Ereignis haben wir ältere Leute gesucht, weil wir nicht wussten, wo sie untergekommen sind. Einige sind in Altenheimen untergekommen. Und da ist es für die Kinder natürlich schwierig, die geliebte Mutter oder den geliebten Vater so zu betreuen, wie sie es eigentlich gewohnt waren.
Und wie erging es in dieser Situation den Pflegekräften?
Schneider Unsere Mitarbeiter wurden mit einer großen Betroffenheit und einem großen Elend konfrontiert. Sie konnten die Teile der Orte, die unter Wasser standen, die geräumt, aber baufällig und daher gesperrt waren, nicht mehr anfahren. Und für die alten Leute war das einfach eine Katastrophe. Es gibt unter unseren Kunden diejenigen, die Krieg und Zerstörung erlebt haben und jetzt diese Katastrophe mitgemacht haben. Das war für sie einfach eine ganz schwierige Situation.
Im Haus der Caritas in Schleiden, dessen Erdgeschoss ja ebenfalls stark beschädigt ist, gab es bis zur Flut ein Tagesangebot für psychisch kranke Menschen. Wie geht es diesen Menschen?
Schneider Bevor ich auf die Frage eingehe, möchte ich sagen: Wir haben versucht, dieses Angebot unter den besonderen Bedingungen an anderer Stelle aufrecht zu halten. Was nun die Auswirkungen der Überschwemmungen für die psychisch kranken Menschen angeht, sind diese sehr abhängig vom Krankheitsbild. Ich erinnere mich, dass Tage nach der Flut ein Bus von einer Freizeit zurückkam, die wir für diesen Personenkreis organisiert hatten. Vier Personen, die mitgefahren sind, waren in Notunterkünften untergebracht, weil ihre bisherigen Wohnungen abgesoffen waren. Die betrachteten das in Abhängigkeit von ihren geistigen Fähigkeiten ein bisschen wie ein Ferienlager. Die wohnen nun zusammen, das ist für die eine tolle Sache. Wenn mein einziger Besitz eine Playmobilstation ist oder ein Koffer mit Comics, verliere ich nicht so viel. Viele von unseren seelisch eingeschränkten Menschen haben keine riesigen Besitztümer angehäuft. Für Sozialphobiker oder für zwanghafte Menschen war das eine riesige Katastrophe. Wenn die ohnehin schon große Probleme haben, jemanden in ihre Wohnung zu lassen, verweigerten sie zunächst auch Hilfskräften den Zutritt, die aufräumen und zerstörten Hausrat entsorgen wollten. Das belastete übrigens auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in diesem Feld tätig sind, sehr. Sie haben sich über die lange Zeit, die sie mit den Klienten arbeiten, ein großes Vertrauen aufgebaut, und dieses Vertrauen mussten sie plötzlich mit anderen teilen. Das lassen die Menschen häufig nicht zu. Ein anderes Beispiel: In den Fällen, in denen das Jugendamt im Spiel ist, weil Kindeswohlgefährdung im Raum stand, hatten die Klienten nun einen zusätzlichen Grund, die Mitarbeiterinnen nicht reinzulassen, weil die sich zum einen ohnehin gegen jede Einflussnahme des Jugendamtes gewehrt, zum anderen gesagt haben: Wir sind abgesoffen, du brauchst nicht zu kommen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kontrollauftrag belastete das sehr, weil sie letztendlich in der Verantwortung stehen, wenn in der Familie etwas schiefgeht. Aber für unsere seelisch erkrankten Menschen versuchen wir wirklich alles, damit für sie die Sonne scheint.
Im Caritaszentrum in Kall hat der Verband unter anderem eine Schuldnerberatung betrieben. Das Zentrum ist völlig zerstört. Was hat das für Auswirkungen für die Klienten in der Schuldnerberatung?
Schneider Ein großes Problem wird möglicherweise die Frage der Unterlagen werden. Unsere Schuldnerberatung im Caritaszentrum in Kall ist abgesoffen. Und damit sind auch ganz viele Akten vernichtet. Für viele Menschen, die jetzt abgesoffen sind, wird es ein großes Problem sein, wenn Gerichtsakten weg sind, wenn Pfändungsbescheide nicht mehr auftauchen. Irgendwann kommen diese Akten zwar wieder, aber wir müssen dafür sorgen, dass es nicht so aussieht, als hätten die Klienten die Unterlagen verschlampt. Wir haben unmittelbar nach der Flut begonnen, unsere ganzen Pfändungskonten zusammenzusuchen und versuchten auch noch, Akten zu trocknen. Was nicht digitalisiert war, ist weg. Das wird für die Klienten noch einmal schwierig, das wird auch noch einmal einen großen Schriftverkehr geben, da bin ich mir sehr sicher. Aber wir werden diese von Überschuldung betroffenen Menschen nicht alleine lassen. Diejenigen Klienten, die nicht abgesoffen sind, versuchen wir genauso weiter zu betreuen wie vor der Überschwemmung. Ich bin mir aber sicher, dass die Perspektive dieser Klientel jetzt noch viel düsterer ist als sie ohnehin schon war.
Wie verändert sich durch so eine Katastrophe das Leben?
Schneider Das ist eine schwere, weil nur persönlich zu beantwortende Frage. Ich kann da nur auf menschliche Erfahrungen zurückgreifen, die ja auch seit Beginn der Corona-Pandemie diskutiert wurden. Da ging und geht es immer um die Frage: Können wir so weitermachen? Ich bin mir sicher: Wir machen weiter wie bisher. Was passiert ist, gerät in Vergessenheit. Da setzt Verdrängung ein. Das ist ein Teil der menschlichen Psyche. Das gilt wohlgemerkt nicht für diejenigen, die jetzt einen Angehörigen verloren haben und nicht für diejenigen, die alles verloren haben und nicht versichert waren, entweder, weil sie keine Versicherung abgeschlossen hatten oder weil es nicht möglich war, eine abzuschließen. Unterm Strich glaube ich: Wir können nicht permanent mit der Katastrophe leben.
Können die Menschen schon jetzt an Perspektive denken?
Schneider Ich glaube, dass daran unmittelbar nach der Flut nur die wenigsten gedacht haben. Aber es wird kommen. Anfangs gab es zwei Dinge: Angst und Hoffnung. Ich habe nach der Katastrophe einen Pfarrer hier aus der Eifel besucht, der das gesamte Erdgeschoss seines Pfarrhauses mit Pfarrbüro und sämtlichen Unterlagen verloren hat. Wenn ich einen starken Glauben habe so wie dieser Pfarrer, dann wird es irgendwie weitergehen. Das hängt natürlich auch ab von der Persönlichkeitsstruktur. Wenn sie jemanden haben, der sagt: das bekommen wir hin, ist es etwas anderes, als ob sie mit jemandem reden, der ohnehin eher ängstlich unterwegs ist. Aber eines stimmt mich zuversichtlich: Die Eifel war von jeher eine arme, strukturschwache Region. Mit Improvisation zu leben, ist den Menschen hier nicht fremd. Die Menschen in der Eifel können schon mit vielen Problemen gut umgehen. Und daher glaube ich, dass es viele auch schaffen werden.
Rolf Schneider (M.), Geschäftsführer des Caritasverbandes für die Region Eifel, informiert Generalvikar Dr. Andreas Frick (l.) und Diözesancaritasdirektor Stephan Jentgens (r.) über die Flutschäden.Andreas Steindl-Bistum Aachen
Der Verband hat dann Anfang August seine Zentrale räumen müssen. Eine zusätzliche Herausforderung.
Schneider Das war tatsächlich so. Nachdem wir das gesamte Erdgeschoss von Schlamm und Müll befreit haben, sagten uns die Statiker und Baufachleute: Damit das Haus, das in Holzrahmenbauweise errichtet ist, kernsaniert werden kann und um die darin arbeitenden Menschen zu schützen, muss der Verband ausziehen. Und wir mussten für die rund 100 Mitarbeitenden eine neue Unterkunft suchen. Wir hatten gehofft, dass der Kelch an uns vorübergehen würde, aber dann kam es anders. Sicherheit hat absoluten Vorrang. Anfang August haben wir das gesamte Erdgeschoss des Hauses geräumt, wobei wir - neben unseren Mitarbeitern - Hilfe hatten vom Vellerhof, einer Einrichtung des Rheinischen Vereins, und den Nordeifelwerkstätten Zingsheim und Kall. Das sind Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Unsere Verwaltung ist jetzt im Nebengebäude, der Villa Wigger in Schleiden, untergebracht. Das Ausbildungszentrum, das in der Villa Wigger untergebracht war, zog vorübergehend nach Blankenheim. Die Caritas-Pflegestationen Schleiden und Kall, die Schulbegleiter, die Familienpflege und die Öffentlichkeitsarbeit sind nach Marmagen in das Verwaltungsgebäude der Eifelhöhen-Klinik gezogen. Die Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen zog um in die Caritas-Pflegestation Mechernich. Im Haus der Caritas wird das gesamte Erdgeschoss abgerissen und neu aufgebaut. Die ausgelagerten Gegenstände haben wir in zwei Überseecontainern verstaut. Die Führungskräfte werden ihre Arbeit in zwei Bürocontainern aufnehmen. Eines ist mir ganz wichtig: Egal, wo wir für die Übergangszeit untergebracht sind, auf die Caritas in der Eifel können sich die Menschen, die bei ihr Hilfe suchen, weiterhin verlassen.
Was macht so ein Ereignis wie diese verheerende Überschwemmung mit einem Verband?
Schneider Es mag die Außenwahrnehmung geben, dass angesichts der Zerstörung, die das Wasser angerichtet hat, angesichts der Menschen, die betroffen sind, alles aus ist, dass es kaum Perspektive gibt. Die Innenwahrnehmung war und ist hier aber eine ganz andere. Wir erleben hier bei einem hohen Prozentsatz der annähernd 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserem Verband eine riesige Solidarität. Das gilt nicht nur für unsere betroffenen Dienste und Einrichtungen, indem alle mit angerpackt haben, Möbel schleppen, Schutt wegräumen und saubermachen, sondern auch für die betroffenen Mitarbeiter, die ihr Zuhause schwer beschädigt oder gar verloren haben. Aber das kenne ich von der Caritas hier in der Eifel nicht anders oder auch nicht von Caritasverbänden in den anderen Regionen unseres Bistums. Die Caritas, die ich kenne, ist eine Dienstgemeinschaft mit einer hohen Solidarität. Die steht für einander ein. Okay, wenn ich jetzt einen großen Bereich Altenhilfe habe mit vielen Pflegeheimen, die betroffen wären, ist das noch einmal ein Sonderbereich, aber wir haben ja als Caritasverband für die Region Eifel keine Pflegeheime. Unsere Altenpflege ist komplett ambulant. Und da erlebte ich schon unmittelbar nach der Katastrophe eine große Solidarität hier im Verband und in der Caritasfamilie im Bistum und darüber hinaus. Diese Solidarität besteht und sie wird weiterbestehen. Diese Solidarität ist eine große Stütze.
Nennen Sie einmal Beispiele.
Schneider Wir mussten hier eine Station räumen und in ein anderes Gebäude umziehen. Das war in Nullkommanichts passiert. 80 Mitarbeiter sind los, da hat sich jeder einen Stuhl oder etwas anderes untern Arm geklemmt, die haben Möbel und Akten geschleppt, und die Sache war ruckzuck erledigt. Wir haben kaum einen Aufruf gebraucht, um 40 Leute zusammenzubekommen, die dann bis zu den Hüften im Schlamm standen und gearbeitet haben. Und dann erlebten wir, dass uns andere Caritasverbände mit Mitarbeitern in der ambulanten Pflege ausgeholfen haben, weil wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die abgesoffen waren und nicht ans Arbeiten denken konnten, vorerst freigestellt hatten. Unsere Klienten waren und sind versorgt. Das geht nur mit dieser großen Solidarität in der Caritas, für die ich sehr, sehr dankbar bin.
Wenn Sie nach vorne schauen, wie geht es weiter?
Schneider Mit Aufbau. Da gibt es kein Vertun. Ich will ihnen einmal ein Beispiel nennen. Mit unserem Caritaszentrum in Kall, von dem aus wir ja unter anderem ambulante Pflege, Sozialberatung und Schuldnerberatung anbieten, sind wir Mieter im Erdgeschoss eines Hauses, das durch die Überflutung stark beschädigt wurde. Vor dem Haus klaffte in der Straße ein riesiges Loch, da sahen Sie alle Kabel und Leitungen, die unterm Bürgersteig verlegt sind. Mit der Vermieterin haben wir bald nach der Überschwemmung Gespräche geführt. Sie ist gewillt, weiterzumachen. Das bedeutet für uns: Wenn die Räume trocken sind und die Elektrik funktioniert - möglicherweise wird das ein halbes Jahr dauern, je nachdem, wie man nun an die Handwerker herankommt - werden alle in die Hände spucken und mit aufbauen. Das ist schon immer so gewesen. Da haben ja auch Ehepartner von Mitarbeiterinnen mitgeholfen. Der eine kann tapezieren, der andere ist Gas- und Wasserinstallateur, der nächste ist Schreiner. Das werden wir schaffen. Es gibt jetzt schon das Gefühl: Wir machen weiter, wir richten das Caritaszentrum neu ein, vielleicht sogar noch besser als vorher.
Rolf Schneider, Geschäftsführer des Caritasverbandes für die Region Eifel, ist beeindruckt von der Solidarität der Bevölkerung, der Mitarbeiter und der Caritas-Familie im Bistum Aachen mit den Flutopfern.Andreas Steindl-Bistum Aachen
Wird der Caritasverband für die Region Eifel möglicherweise noch stärker aus dieser Katastrophe herausgehen?
Schneider Das möchte ich unter zwei Aspekten beantworten. Der erste betrifft die Situation des Verbandes. Im südlichen Teil des Kreises Euskirchen sind wir ein sehr starker Player in der freien Wohlfahrtspflege. Ich kann mir zurzeit nicht vorstellen, wo wir noch stärker werden können. Das mag vielleicht dann so sein, wenn andere Anbieter nun in Folge der Überschwemmungen Aufgaben nicht mehr anbieten können und die Caritas diese übernimmt. Der zweite Aspekt ist der mentale Aspekt. Wenn man als Verband diese Unwetterkatastrophe erlebt hat, die über uns buchstäblich hereingebrochen ist, und sie nachher bewältigt hat, wird das den Verband mental noch stärker machen. Da bin ich mir ganz sicher. Wir erleben uns ja nun auch untereinander. Alle stehen für einander ein, alle sind für einander da. Das ist eine Stärke, die noch zunehmen wird und dann auch bleibt. Wir haben hier in unserem Verband Anlaufstellen für unsere Mitarbeiter, die alles verloren haben, die Fragen haben. Ihnen wurde und wird geholfen. Und das sehen diese Mitarbeiter auch. Das wird Auswirkungen haben auf unsere mentale Stärke, und es wird sich im Kreisgebiet auch noch einmal herumsprechen, welche starken Mitarbeiter hier am Werk waren und sind.