Wenn ein Kind im Mutterleib mitgetrunken hat und lebenslang den Schaden trägt
Als die beiden ihren Pflegesohn Tom* aufnahmen, war er eineinhalb Jahre alt. Schon rasch fiel auf, wie lebhaft der kleine Mann war. Sprunghaft und unkonzentriert, impulsiv, zuweilen aggressiv, immer in Bewegung, immer unter Spannung - Tom forderte seiner Familie und seinem Umfeld früh viel ab. Das änderte sich auch in der KiTa nicht.
Als kleines Kind zeigte Tom keine Angst und probierte extreme Sachen aus, zum Beispiel wie sich das anfühlt, mit dem Fahrrad gegen eine Mauer zu fahren oder unbegleitet vom Zehn-Meter-Brett ins Wasser zu springen. Zugleich rettete sein Charme ihn häufig vor großem Ärger in der KiTa. Wenn er Mist gebaut hatte, wickelte er die Erzieherinnen um den Finger.
Wegen der Auffälligkeiten suchten Christian und Michaela J. mit Tom ein sozialpädiatrisches Zentrum auf. Dort wurde das Verhalten des Jungen als Ausdruck von ADHS interpretiert, also als Folge einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Medikamente halfen bei der Konzentration, Tom sagte: "Mir fließen die Buchstaben aus den Ohren, ich sehe jetzt die Zahlen."
Was blieb, waren die psychosozialen Auffälligkeiten. Tom vollzog die Sinnhaftigkeit von Regeln nicht nach, sie hatten keine Gültigkeit für ihn. Wenn er einen Fehler machte, der weh tat oder viel Ärger mit sich brachte, lernte er nicht daraus. Michaela J. sagt: "Er packt die heiße Herdplatte auch nach einem zehnten Mal wieder an." Er findet jedes einzelne Erlebnis neu interessant.
Niederschmetternde Diagnose, befreiende Gewissheit
Tom musste immer wieder aus der KiTa abgeholt werden, weil es nicht mehr ging. Das führte die Familie immer wieder an Grenzen. Sie konnte es aber nicht so recht einordnen. Das änderte sich, als Michaela J. eine Erzieherinnenfortbildung besuchte. Dort zählte der Referent Symptome auf, die zu 100 Prozent ihren Pflegesohn beschrieben. Sie sagte damals: "Das ist mein Kind."
Bei Alkohol trinkt das ungeborene Kind mit. Schon ein Glas Sekt kann lebenslange Schäden auslösen.Symbolbild, KI-generiert mit Adobe Firefly
Die Diagnose, die sich daraus ergab, lautete: Tom leidet am Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), also an den Folgen einer alkoholbedingten Schädigung während der Schwangerschaft. Dass diese Behinderung bei früheren Untersuchungen übersehen wurde, ist nicht untypisch, bei FAS können Fehldeutungen trotz wachsender Diagnosesicherheit durchaus vorkommen. Michèle Offermann, Fachreferentin in der Geschäftsstelle des Caritasverbandes für das Bistum Aachen, sagt: "Die Diagnose ist komplex und wird oft zu spät oder gar nicht gestellt."
Für Christian und Michaela J. war die Diagnose einerseits niederschmetternd, andererseits befreite sie die neue Gewissheit.Das Niederschmetternde: An der grundlegenden Konstitution des Jungen würden sie wenig ändern können. Das Hoffnung Gebende: Ein guter Rahmen und eine gute Begleitung können Toms Chancen auf ein würdiges Leben verbessern helfen. Das war für die beiden Pflegeeltern alternativlos. Denn FAS führt viele Betroffene in ein Leben in der Sucht, auf der Straße, im Knast.
Ein Alltag mit vielen Hürden, Barrieren und Kämpfen
So investierten Christian und Michaela J. sehr viel Zeit und Energie, nahmen den Papierkrieg mit Behörden auf, kämpften um Anerkennungen, um Unterstützung, schließlich um die Abwehr von Sanktionen und Strafen. "Wir wuchsen mit den Herausforderungen", sagt Christian, und das bedeutete in den Schuljahren und danach: "Immer wieder kam eine Schippe darauf."
Manches würden sie heute anders machen, sie hätten Tom vielleicht doch in eine Förderschule gehen lassen statt in eine Gesamtschule. "Aber wir wollten ihm keine Chancen auf ein normales Leben verbauen," ordnet der Pflegevater ein. Heute, nach vielen auch harten Rückschlägen, steht das Paar an der Schwelle sich einzuräumen, dass dies eher Wunschdenken war.
Nach einer Schulkarriere mit großen Schwierigkeiten machte Tom einen Hauptschulabschluss in einer spezialisierten Einrichtung. Als er in die Pubertät kam, potenzierten sich die Probleme, Erwachsene inklusive der Pflegeeltern erreichten ihn nicht. Er machte sein Ding, probierte Drogen aus, stürzte sich in problematische Beziehungen, machte Ärger, handelte sich Ärger ein.
Neues Hilfenetz und Hoffnung auf bessere Zeiten
Mit und mit baute das Ehepaar eine Hilfenetz auf, um dem volljährigen Sohn eine Perspektive auf ein möglichst selbstständiges Leben zu erschließen. Denn neben der Verantwortung, die sie für Tom sehen, erkennen sie ihre eigenen Grenzen. Und Christian und Michaela J. wollen auch frühzeitig die Weichen richtig stellen, damit das Ganze auch ohne ihr Mittun funktioniert.
Zu dem Hilfenetz gehört die gesetzliche Betreuung durch jemanden, der sich auf die Begleitung von FAS-Betroffenen spezialisiert hat. Tom ist bereits öfter bei Einrichtungen rausgeflogen oder hat sich selbst entlassen. Trotzdem lautet der Plan, mit ihm eine passende Form des betreuten Wohnens zu finden. Der Kontakt gestaltet sich zurzeit sprunghaft und kompliziert.
Christian und Michaela J. haben über die Jahre hinweg gelernt, die Grenzen zu sehen und zu akzeptieren, die ihrem Pflegesohn und damit auch ihnen gesetzt sind. Es war ein schmerzlicher Prozess, zu dieser Akzeptanz zu finden, und er ist noch nicht zu Ende. Kürzlich wurde Tom straffällig und nur dank anwaltlicher Hilfe musste er dafür nicht ins Gefängnis.
So sehr die beiden ihr ganzes Elternsein lang gekämpft haben, so geht es weiter. Das skizzierte Netz stärkt sie und sie hoffen auf bessere Zeiten. Zum Beispiel möchten sie das erste Mal nach so vielen Jahren noch einmal einen Urlaub ohne katastrophenbedingten Abbruch erleben. Zugleich wollen sie für ihren Sohn immer der Anker sein, der Halt und Sicherheit gibt.
Den gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol finden Christian und Michaela J. ausgesprochen leichtfertig, ganz allgemein und mit Blick auf Schwangere. Frauen greifen zum Glas, lassen sich zum Trinken animieren, und ihr ungeborenes Kind trinkt mit. Schon ein Getränk reicht, um die Weichen in Richtung eines Lebens zu stellen, das Tom, Christian und Michaela J. teilen. "Die einzige wirksame Prävention ist der vollständige Verzicht auf Alkohol in der Schwangerschaft. Um FAS wirksam zu begegnen, braucht es eine breite öffentliche Aufklärung über Ursachen und Folgen", sagt Michèle Offermann.
* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind die Namen der Beteiligten verändert.
Mehr Informationen zum Thema findet man u.a. auf den Seitens des Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit (BIÖG) oder auf www.fasd-deutschland.de.
Autor: Thomas Hohenschue