Wohin mit dem Kreuz?
Weil ich nicht gleich schalte, holt sie ein bisschen aus. Ich erfahre, dass sie gerade dabei ist, die letzten Dinge zu regeln und die Wohnung ihrer verstorbenen Mutter auszuräumen. Die soll nämlich in Kürze verkauft werden. Also muss alles raus. Auch das alte Kruzifix, das die Frau jetzt aus einer Plastiktüte zieht. "Das hat die Mama mal aus Kevelaer mitgebracht. Seitdem hing es neben ihrem Bett. Bis zum Schluss. Mama hat darin immer Trost gefunden und viel gebetet. Aber von uns will es keiner haben. Also wohin mit dem Kreuz?"
Jetzt hält sie es mir direkt vors Gesicht. Auf den ersten Blick sehe ich: Ein Kunstwerk ist das nicht. Eher Massenware. Zudem ist der Korpus aus Metall schon etwas angelaufen. Und Spinnweben sind auch dran.
Die Frau sieht mich ratlos an: "Sie können das doch bestimmt brauchen, Herr Pastor?! Meiner Mama war dieses Kreuz immer sehr wichtig. Deshalb möchte ich es nicht einfach wegwerfen, oder im Internet verscherbeln. Das bringe ich nicht übers Herz. Aber bei mir daheim irgendwo aufhängen? Das passt einfach nicht! Und mein Mann wäre auch dagegen…" Auf die Schnelle kann ich der Frau auch nicht helfen. Aber ihre Frage lässt mich tagelang nicht los.
Wohin mit dem Kreuz?
Ich kann verstehen, wenn sich jemand schwertut mit so einem Gegenstand, einem Stück Holz, an das ein Mensch angenagelt ist, wenn er sich so etwas nicht unbedingt in seine Wohnung hängen will, sondern abwinkt: Nein, danke!
Aber es gibt Bereiche, da kommt man trotzdem um das Kreuz nicht herum. Da geht es um mehr, als nur um einen Wandschmuck.
Da stört das Kreuz, weil es mitten im Weg steht und meinen Lebensfluss bremst. Es stört, weil es unangenehme Fragen aufwirft und Lebenspläne durchkreuzt. Es stört, weil es mich zwingt, hinzuschauen, wo es Leiden und Sterben markiert.
Wohin mit dem Kreuz?
Wohin mit dem, wofür es steht in meinem Leben und in der ganzen Welt?
Wohin mit der Sorge, wenn jeden Morgen mit den Nachrichten erschreckende Neuigkeiten von überall her ins Wohnzimmer schwappen?
Wohin mit den Tränen, wenn in Myanmar die Erde zittert, ein Beben in wenigen Sekunden Häuser und Wohnungen zusammenbrechen lässt und unter dem Schutt auch noch die Liebsten begräbt?
Wohin mit dem Blut, das das Leid unzähliger Kinder in den Kriegsgebieten auf der ganzen Welt dokumentiert, das die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft erstickt und das nicht für das Leben steht, sondern für den Tod?
Wohin mit der Angst, wenn der Arzt plötzlich feststellt, dass da im Körper eine schwere Krankheit ist, die das Leben verkürzt, die sämtliche Gedanken belegt, die das Leben auf den Kopf stellt?
Wohin mit dem Schmerz, wenn sich in einer Beziehung abzeichnet, dass eine Trennung nicht mehr zu vermeiden ist, dass eine Familie auseinanderbricht, dass Wunden für lange Zeit nicht mehr heilen werden?
Mit jedem Kreuz im Bereich meiner persönlichen Erfahrungen und im Blick auf die Kreuzwegstationen der Menschheit, bekommen die uralten Fragen ein neues Gesicht: Wohin mit dem Kreuz? Wohin mit aller Not? Warum beseitigst du, Gott, nicht ein für alle Mal alles, was dem Leben im Wege steht? Warum nimmst du mir das Kreuz nicht endlich ab? Ich will es nicht und kann es auch in meinem Leben nicht brauchen? Kannst du es nicht nehmen?
Dabei hat Gott es längst genommen. Hat es auf sich genommen, es getragen - mein Kreuz, dein Kreuz, all das Leid und die Not der Welt.
Gottes Sohn hat das, was uns zu schaffen macht - unsere Angst, unseren Schmerz, unsere Tränen - nicht auf die leichte Schulter genommen. Er ist nicht wie ein junger Gott über unser Leid hinweg gegangen. Er hat es sich aufgeladen. Hat es am eigenen Leibe gespürt. Wäre beinahe darunter zerbrochen. Dreimal stürzt Jesus auf dem Weg nach Golgotha. Die Soldaten werden ungeduldig. Sie erkennen, dass Jesus es alleine nicht schafft.
Wohin mit dem Kreuz?
Da entdecken sie einen Mann, der gerade vom Feld kommt: Simon von Zyrene. Ihn trifft es! Ihn zwingen die Soldaten mit unter das Kreuz Jesu. Vermutlich wird er sich gefragt haben: Warum ausgerechnet ich? Muss das jetzt sein? Das kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Was soll ich mit dem Kreuz?
Doch dann beugt er sich hinab. Hilft dem Verwundeten auf die Beine. Nun tragen sie die Last gemeinsam. Schleppen sich aufwärts. Dem letzten Ziel entgegen.
Eine Szene, die mich immer wieder anrührt. Weil sie mich erinnert: Jedes Kreuz wird leichter, wenn ich es nicht alleine tragen muss. Wenn jemand da ist, der mir unter die Arme greift. Der mir den Rücken frei hält und mich aufrichtet. Jemand der mich sieht und seinen Arm um meine Schulter legt.
Simon von Zyrene war für Jesus dieser Mensch. Einer der das Kreuz mittrug - und es dadurch ein wenig erträglicher machte. Auch wenn er das Schicksal Jesu nicht abwenden konnte.
"Wohin mit dem Kreuz?"
Liebe Mitarbeitende der Caritas, ich vermute, dass Ihnen in ihrem beruflichen Alltag diese Frage schon oft auf die ein oder andere Weise begegnet ist: Wie soll es bloß weitergehen? Wie soll ich das schaffen? Wie soll ich fertig werden mit dem, was das Leben mir oder anderen aufgebürdet hat?
Und immer wieder haben Sie wie Simon all das getan, was in ihrer Kraft stand, um den Menschen ihr schweres Kreuz etwas leichter zu machen. Durch ihre Zuwendung und ihren Einsatz haben sie gezeigt: Du Kreuzträger, du Kreuzträgerin: Du bist nicht allein. Und auch nicht gottverlassen. Ich bin da. Und Gott ist da. Wir lassen dich nicht im Dreck liegen, nicht an deinen Tränen ersticken, nicht an deiner Not zerbrechen. Auch wenn es gerade furchtbar schwer ist und weht tut. Wir lassen dich damit nicht im Stich. Als Christen sehen wir im Kreuz nichts Verstaubtes. Nichts für die Ewiggestrigen, das dem modernen Menschen nichts mehr sagen könnte. Im Gegenteil. Wir sehen unsere Zukunft. "Heute noch, wirst du mit mir im Paradies sein!", ruft Jesus dem Schächer an seiner Seite zu. "Du wirst nicht in der Finsternis untergehen. Wirst nicht im Nichts verschwinden. Ich habe mich mit Dir verbunden. Dein Kreuz ist mein Kreuz. Darum wird mein Sieg auch dein Sieg sein. Denn dazu bin ich in die Welt gekommen: damit sie das Leben haben und es in Fülle haben!
Das ist es, was wir an Ostern feiern: Wir dürfen unser Kreuz auf Gott werfen. Dürfen hoffen, dass die Finsternis dieser Welt ein Ende hat. Dass die Liebe über den Hass, das Recht über das Unrecht, das Leben über den Tod triumphiert. Mag das Kreuz uns auch noch so sehr drücken, wird werden darunter nicht zerbrechen. Denn Gottes Sohn trägt es mit. Mehr noch: er wird uns von seiner Last befreien. Am Ende unseres Weges. Am Ziel unserer irdischen Pilgerschaft: das himmlische Jerusalem. Dort wird Gott selbst uns wieder aufrichten. Und wir werden aufstehen. Auferstehen. Zur Fülle des Lebens.
Pfr. Hannokarl Weishaupt
Unser Autor ist Erster Vorsitzender des Caritasverbandes für das Bistum Aachen und Bischofsvikar für das Caritaswesen.