Enzyklika Fratelli Tutti. Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft
"Gott schaut nicht mit den Augen, Gott schaut mit dem Herzen." (Fratelli Tutti, Abs. 281)
"Gott schaut nicht mit den Augen, Gott schaut mit dem Herzen." (Fratelli Tutti, Abs. 281)
Eine Enzyklika ist das wichtigste Lehrschreiben des Papstes, die sich mindestens an die gesamte katholische Kirche, vor allem ihre Bischöfe richtet. Diese Enzyklika adressiert alle Menschen, die "guten Willens" sind (FT 56). Für Katholiken bieten Enzykliken eine wichtige Orientierung, die Aussagen sind aber nicht "unfehlbar"!
Papst Franziskus selbst schreibt: "Ich lege diese Sozialenzyklika als demütigen Beitrag zum Nachdenken vor." (FT 6)
Es geht um das Zusammenleben aller Menschen. Begegnungen mit Nachbarn und Fremden, egal woher sie kommen oder was sie (nicht) glauben, sollen von geschwisterlicher und freundschaftlicher Haltung ihnen gegenüber geprägt sein.
Papst Franziskus zeichnet eine christliche Vision von Gesellschaft, die kulturelle und religiöse Vielfalt als Bereicherung wertschätzt. Es ist eine Sozialenzyklika. Sie formuliert weniger katholische Glaubensinhalte als dass sie die Allgemeingültigkeit und Unantastbarkeit der Menschenwürde aller einfordert im Miteinander genauso wie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
"Die Zukunft ist nicht "einfarbig". Wenn wir den Mut dazu haben, können wir sie in der Vielfalt und in der Unterschiedlichkeit der Beiträge betrachten, die jeder einzelne leisten kann. Wie sehr muss unsere Menschheitsfamilie lernen, in Harmonie und Frieden zusammenzuleben, ohne dass wir dazu alle gleich sein müssen!" (FT 100)
Neu ist vor allem der Rahmen: Die Enzyklika ist erstmalig angeregt von einem Nicht-Christen, einem Muslim, dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb. Aus der gemeinsamen Ansprache der beiden Geistlichen sind viele Zitate zu finden. Insgesamt ist die Enzyklika einer Ansammlung vieler bereits veröffentlichter Gespräche und Texte.
"…so habe ich mich in diesem Fall besonders vom Großimam Ahmad Al-Tayyeb anregen lassen, dem ich in Abu Dhabi begegnet bin. Dort haben wir daran erinnert, dass Gott »alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen und sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben«" (FT 5)
Obwohl Caritas nicht ausdrücklich benannt wird, steht Caritas für eine Kultur der Begegnung und des Miteinanders, für die die Enzyklika global und gesamtgesellschaftlich wirbt.
Caritas trägt eine große Mitverantwortung, indem sie ein Zusammenleben gestaltet und (vor)lebt - vor allem mit jenen, die sonst keinen "Nutzen" bringen und "weggeworfen" würden (Vgl. FT 18f).
Das Ziel jeder Caritasarbeit ist es, die Liebe Gottes für jeden Menschen erfahrbar zu machen und das heißt, die Würde aller Menschen zu wahren und dafür einzutreten. Sie tut das vor allem, in dem sie die Nähe Hilfesuchender sucht, von ihnen lernt und mit ihnen gemeinsam arbeitet.
"Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos, niemand ist entbehrlich. Dies bedeutet, dass die Peripherien mit einbezogen werden müssen. Wer in ihnen lebt, hat einen anderen Blickwinkel, sieht Aspekte der Realität, die man von den Machtzentren aus, in denen die maßgeblichen Entscheidungen getroffen werden, nicht erkennen kann." (FT 215)
Diese Ziele müssen auch in der Politik vertreten werden. Die politische Arbeit der Caritas wird ebenso indirekt bekräftigt und gestärkt. Ein Abseitsstehen, wenn es um den Aufbau einer besseren Welt geht, ist keine Option.
"Die Kirche »hat eine öffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Fürsorge oder der Erziehung erschöpft«, sondern sich in den »Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit«stellt." (FT 276)
Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas, die professionalisiert und kompetent in sozialen Lebenslagen Hilfe bieten, tragen zu der christlichen Vision dieses friedvollen Miteinanders auf der Welt bei.
Egal, was ein Mensch glaubt oder woher er kommt, Papst Franziskus macht klar: Jeder kann ein gottgefälliges, d.h. gutes Leben führen. Denn für ihn zählt nur eine Unterscheidung unter Menschen: Die, die anderen helfen und die, die Hilfesuchende meiden. (Vgl. FT 70)
"Die Kirche ist ein Haus mit offenen Türen, weil sie Mutter ist. Und wie Maria, die Mutter Jesu, wollen wir eine Kirche sein, die dient, die aufbricht, die aus ihren Kirchen herausgeht, die aus ihren Sakristeien herausgeht, um das Leben zu begleiten, die Hoffnung zu unterstützen und Zeichen der Einheit zu sein, um Brücken zu spannen, Mauern zu durchbrechen und Versöhnung auszusäen" (FT 276)
Das Leben Jesu Christi ist Quelle dieser Überzeugungen. Der Glaube an die frohe Botschaft kann Stärke und Hoffnung geben, um auf der gemeinsamen Suche im Leben wirkliche "Weggefährten" (FT 274) zu sein und das Leben aus Liebe zu gestalten.
"Es gibt hingegen Weisen, den Glauben so zu leben, dass er zu einer Öffnung des Herzens gegenüber den Mitmenschen führt, und dies ist Gewähr für eine echte Öffnung gegenüber Gott." (FT 74)
"Mit der Kraft des Auferstandenen will sie eine neue Welt gebären, in der wir alle Brüder und Schwestern sind, in der es für jeden von unserer Gesellschaft verstoßenen Menschen Platz gibt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen." (FT 278)
Papst Franziskus betont die Bedeutung und den Wert von Geschichte, Wissen und Erfahrung der Alten.
Die Weitergabe an jüngere Generationen schenkt ihnen Halt und Vertrauen, mit dem sie eine wertegebundene Zukunft gestalten können ohne Ideologien zu verfallen. So wichtig diese Beziehung ist, so sehr wird die Frage nach dem Nutzen und die Herabwürdigung dieser und anderer Menschengruppen verurteilt. Denn ältere Menschen leisten mit ihrer Biographie einen einzigartigen Beitrag zum Gemeinwohl.
Für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen tragen viele verschiedenen Personen Verantwortung: Familie, Erzieher oder Lehrer.
Dabei bilden Familien "den ersten Ort, an dem die Werte der Liebe und Geschwisterlichkeit, des Zusammenlebens und des Miteinander-Teilens, der Aufmerksamkeit und der Sorge für den anderen gelebt und vermittelt werden." (FT 114). Das wichtigste in der Erziehung aller ist die Wertevermittlung von Freiheit, gegenseitiger Achtung und Solidarität von Beginn an.
Zum Thema Armut und Arbeit kritisiert der Papst besonders die "Versessenheit, die Kosten der Arbeit zu reduzieren" (FT 20).
Die daraus entstehende Arbeitslosigkeit führe zu einer Zunahme von Armut. Armut steht immer in aktuellen Kontexten und im direkten Vergleich: Durch das Anwachsen des modernen Reichtums entstehen neue Formen der Armut. "Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich als wirksam für das Wachstum, aber nicht gleicherweise für die Gesamtentwicklung des Menschen erweisen" (FT 21). Arbeit wird als hohes Gut für Gesellschaft als auch für Selbstverwirklichung des Menschen gesehen. "Das große Ziel muss immer sein, ihnen (den Armen) mittels Arbeit ein würdiges Leben zu ermöglichen" (FT 162).
Wie bei älteren Menschen so auch bei Menschen mit Behinderung fordert Papst Franziskus eine unbedingte Anerkennung ihrer Würde und ihres einzigarten Beitrags zur Gesellschaft durch ihre Person - fernab von Fragen nach Nutzen. Menschen mit Behinderung werden hier als "verborgene Exilanten" (FT 98) bezeichnet. Der Papst plädiert besonders für die Ermöglichung aktiver Teilnahme und Teilhabe an allen Bereichen des Lebens.
Das Thema Flucht und Migration nimmt unter den Caritasthemen den meisten Platz ein und enthält viele konkrete Anforderungen (Bsp. Vereinfachung von Antragsverfahren, Zunahme von Visaausstellungen, etc. (FT 130)).
Jede Aussage steht auch hier unter der Prämisse der Anerkennung der unveräußerlichen Würde aller Menschen. Papst Franziskus macht drei Themenfelder auf:
Vor allem geht es Papst Franziskus um die Verurteilung der Todesstrafe jeglicher Art. Insgesamt wirbt er für ein Strafverständnis losgelöst vom Rache- und Angstgedanken. Es dürfen keine Vorurteile gegen Menschengruppen aufgebaut werden, die allgemein zum Übel der Gesellschaft stigmatisiert werden. Franziskus versteht Strafen als "Teil eines Prozesses der Heilung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft" (FT 266).
Sowohl jeder Einzelne als auch jede Institution hat Möglichkeiten der Mitverantwortung.
Diese gilt es im Sinne des Gemeinwohls zu gestalten. "Denn ein Einzelner kann einer bedürftigen Person helfen, aber wenn er sich mit anderen verbindet, um gesellschaftliche Prozesse zur Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit für alle ins Leben zu rufen, tritt er in das Feld der umfassenderen Nächstenliebe". Politisches Agieren spielt dabei eine große Rolle: "Nochmals lade ich dazu ein, die Politik neu zu bewerten, die eine sehr hohe Berufung [ist], eine der wertvollsten Formen der Nächstenliebe, weil sie das Gemeinwohl anstrebt" (FT 180).
Staat und zivilgesellschaftliche Institutionen sind dazu aufgerufen, "über die Freiheit der rein leistungsorientierten Mechanismen bestimmter wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Systeme" (FT 108) hinauszugehen, um sich auf Mensch und Gemeinwohl hin auszurichten.